Karlsruher EZB-Urteil:Das Huhn und der Euro

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Das Bundesverfassungsgericht urteilt: Mario Draghi darf nicht nur brüten, er darf auch fliegen. Mit diesem Urteil beendet das Karlsruher Gericht seinen 42-jährigen Konflikt mit dem Luxemburger EU-Gerichtshof.

Von Heribert Prantl

Das Huhn, das goldene Eier legt: Vor Jahrzehnten warben deutsche Banken mit diesem Motto. Heute ist die Europäische Zentralbank (EZB) für die goldenen Eier zuständig. Die EZB muss zu diesem Zweck das tun, was ein Legehuhn tun soll: auf dem Nest sitzen.

Wenn man sich also Mario Draghi (nicht um ihn zu beleidigen, sondern um den hoch komplizierten Streit um sein OMT-Programm anschaulich zu machen) als Huhn vorstellt, wird die Sache klar: Darf das Huhn nur brüten? Oder darf es auch flattern? Darf es, wenn es sein muss, auch einmal über den Zaun fliegen? Darf es gar so tun, als wäre es ein Adler? Die Kläger in Karlsruhe wollten dem Huhn verbieten lassen, dass es abhebt; sie wollten sein Flattern und Fliegen verhindern. Sie wollten mit ihren Klagen erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Huhn die Flügel stutzt. Sie sind gescheitert.

Das Urteil belässt dem Huhn seine Freiheit, es lässt der Europäischen Zentralbank ihre Spiel- und Freiräume; die sind groß und die bleiben groß. Aber sie sind nicht beliebig, die EZB darf sich nicht ihr eigenes Recht setzen. Draghi kann also nicht tun und lassen, was er will. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist eine Unabhängigkeit von der Politik, sie ist eine Unabhängigkeit von den Regierungen, aber nicht eine Unabhängigkeit vom Recht. Das Recht bestimmt die - allerdings weit gesetzten - Grenzen der EZB-Währungspolitik. Und die Einhaltung dieser Grenzen garantiert vor allem und zuerst der Europäische Gerichtshof. Das ist nun das Ergebnis des historischen Streits zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

Draghi darf nicht nur brüten, er darf auch fliegen

Der kalte "dreißigjährige Krieg" zwischen dem deutschen Verfassungsgericht in Karlsruhe und dem EU-Gerichtshof in Luxemburg, der genau genommen ein zweiundvierzigjähriger Krieg war, ist zu Ende. Das jüngste Karlsruher Urteil markiert den Frieden von Karlsruhe und Luxemburg. Das große Gericht in Karlsruhe akzeptiert, nach langem Zögern, aber nun mit souveräner Geste, bei europäischen Angelegenheiten die Interpretationshoheit und die Entscheidungsgewalt des noch größeren Gerichts in Luxemburg.

Das ist ein neuer Friede zum Wohl Europas. Das höchste deutsche Gericht in Karlsruhe wollte es nicht riskieren, dass nach einem Bannstrahl aus Deutschland womöglich die Basis des EU-Gemeinschaftsgerichts erodiert, es wollte nicht riskieren, dass Gerichte oder Regierungen anderer EU-Staaten sich nun ermuntert fühlen könnten, Luxemburger Entscheidungen zu missachten.

Karlsruhe unterwirft sich nicht Luxemburg, Karlsruhe wiederholt aber in einer ganz entscheidenden Frage, nämlich bei der Euro-Rettung, was es vor ein paar Jahren bei der berühmten "Honeywell"-Entscheidung schon gesagt hat: Der EU-Gerichtshof in Luxemburg habe einen Anspruch auf Fehlertoleranz, solange damit die deutsche Verfassungsidentität nicht verletzt wird. Eine solche Verletzung sahen die Karlsruher Richter bei der Euro-Rettung nicht - auch wenn sie dazu allerlei Vorbehalte formulierten.

Das ist nicht der von den Klägern, das ist nicht der von Peter Gauweiler & Co. erhoffte Donnerschlag gegen die behaupteten Verstöße gegen das Grundgesetz und die deutsche Souveränität; das ist ein Handschlag der Karlsruher mit den Luxemburger Richtern; das ist der herzhafte Einstieg in eine wohlwollende Kooperation. Karlsruhe erklärt nicht seinen Rückzug aus den europäischen Dingen, lässt aber dem Luxemburger Gericht auch in den kitzeligsten EU- und Euro-Angelegenheiten das Vorrecht.

Seit dem berühmten "Solange-I"-Beschluss von 1974 hatte es sich das Bundesverfassungsgericht vorbehalten, in jedem Einzelfall die Vereinbarkeit von europäischem mit deutschem Recht selbst zu prüfen. EU-Recht und dessen Interpretation in Luxemburg wollte das höchste Gericht in Karlsruhe nur akzeptieren, "solange" das dem Karlsruher Gusto entspricht. Dieser Gusto, dieser Karlsruher Geschmack hat seine grundgesetzlich festgelegten Vorlieben. Nun erklärt das Karlsruher Gericht, dass es künftig auch Speisen akzeptiert, die es für versalzen hält - solange sie noch irgendwie genießbar sind . . ., weil halt die Geschmäcker in Europa verschieden sind. Der eine mag's scharf und deftig, der andere nicht.

Nach Belieben schalten und walten kann die Europäische Zentralbank aber auch jetzt nicht. Zwar nehmen sich die Karlsruher Richter zurück. Aber die Luxemburger Richter hatten ja zuvor erklärt, dass die EZB unter ihrer rechtlichen Aufsicht steht. Das hat den Karlsruher Richtern ihr Urteil erleichtert. Die Luxemburger Richter müssen nur ihr Rechtsversprechen auch einlösen.

Das bedeutet: Die Europäische Zentralbank darf nicht aus der Rolle fallen. Das Huhn muss Huhn bleiben, es darf sich nicht zum Adler aufschwingen.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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