Kailash Satyarthi:"Du bist ein Teil vom Rest der Welt"

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Der indische Friedensnobelpreisträger über seinen Kampf gegen die Kinderarbeit und die Rolle der Konsumenten.

Interview von Michael Bauchmüller

Im Jahr 1998 brach Kailash Satyarthi zum "globalen Marsch gegen Kinderarbeit" auf. Dieser führte 80 000 Kilometer weit, durch mehr als hundert Länder, und machte den Inder zum wichtigsten Vorkämpfer gegen Kinderarbeit. Im Dezember wurde Satyarthi mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Er fordert zu einer Globalisierung des Mitgefühls auf.

SZ: Herr Satyarthi, wie wurden Sie Aktivist?

Kailash Satyarthi: Daran kann ich mich ziemlich genau erinnern, da war ich sechs Jahre alt. Ich kam in die Schule, voller Träume, neuer Bücher, in einer neuen Uniform. Und ich sah einen Jungen außerhalb des Schultores, der arbeiten musste. Dieser Kontrast, das war ein Schock.

Das haben Sie mit sechs Jahren schon so wahrgenommen?

Ja, ich habe damals alle gefragt, meinen Lehrer, meine Familie - wie kann das sein? Einmal habe ich den Vater des Jungen gesehen, da habe ich allen Mut zusammengenommen. Ich habe ihn gefragt, warum er sein Kind nicht zur Schule schickt. Für ihn schien das eine sehr schwere Frage zu sein. Er sagte: Wir sind zum Arbeiten geboren. Bis heute lässt mich diese eine Frage nicht los: Warum werden die einen mit Träumen, mit Möglichkeiten geboren und die anderen nicht? Das war der Beginn.

Sie wurden Ingenieur.

Das war der Wille meiner Eltern, aber das Schicksal dieser Kinder konnte ich nicht vergessen. Als ich mit dem Studium fertig war, beschloss ich, nicht als Ingenieur zu arbeiten, sondern mich meiner Passion zu widmen.

Das muss ein ziemlicher Bruch mit der Tradition, mit der Familie gewesen sein.

Natürlich, das war es! Es war nicht einfach. Ich habe das ganze Kasten-System herausgefordert. Das hat dazu geführt, dass ich meinen Familiennamen abgelegt habe. Dass war alles sehr ungewöhnlich. Sie müssen wissen: Ich habe eine der lukrativsten Karrieren aufgegeben, die ich hätte haben können. Meine Mutter war Witwe, und wir waren nicht reich. Für sie war das schwer zu verstehen.

Heute wäre sie stolz auf Sie.

Ganz sicher. Leider konnte sie das nicht miterleben. Ich bin der erste in Indien geborene Nobelpreisträger.

Nicht mal Gandhi hat den Preis bekommen.

Obwohl er ihn verdient hat. Er war mehrmals nominiert. Aber der Preis ist ja auch nicht nur für mich. Zum ersten Mal bekommen die Ärmsten der Armen, die vernachlässigten, an den Rand gedrängten Kinder Anerkennung. Das ist die wichtigste Botschaft dieses Nobelpreises.

Die einen haben Träume, die anderen müssen schuften: Indische Kinder als Bauarbeiter in Delhi. (Foto: Daniel Berehulak/Getty)

Wie hat der Preis ihren Kampf gegen Kinderarbeit verändert?

Er hat natürlich viel Interesse geweckt, er hat Kinderrechte ins Rampenlicht geholt. Das war ziemlich wichtig, und natürlich bin ich auch sehr gefragt. Aber er hatte auch unerwünschte Nebenwirkungen.

Welche?

Einige meiner bisherigen Unterstützer denken seitdem, ich würde im Geld schwimmen. Die haben sich gefragt: Warum sollen wir Kailash 20 000 oder 30 000 Euro geben, wenn er doch als Nobelpreisträger jetzt reich und berühmt ist. Die Wahrheit ist leider: Wir haben keinen einzigen Cent an zusätzlicher Unterstützung bekommen.

Und was geschah mit dem Preisgeld? Immerhin mehr als 400 000 Euro.

Es liegt beim Nobelpreiskomitee. Ich werde noch entscheiden, wem es zugutekommen soll. Aber ich werde es weder für mich noch für meine Organisation nutzen. Da wird sich etwas anderes finden, auf jeden Fall für Kinder.

Der Preis hat ihrer Arbeit viel Aufmerksamkeit verschafft. Wie dauerhaft ist die?

Das ist das Besondere am Nobelpreis: Er gerät nicht in Vergessenheit. Natürlich muss ich meine Mission fortsetzen. Ich bin ein Aktivist, und ich werde Aktivist bleiben, bis meine Mission erfüllt ist. Und das wird erst der Fall sein, wenn die Welt frei von Kinderarbeit ist. Zum Glück sind viele Nobelpreisträger sehr alt geworden.

Seit 1973 gibt es eine Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, sie verlangt ein Mindestalter von 15 Jahren für Arbeiter. Was ist so schwer daran, sie in 42 Jahren umzusetzen?

Das Problem ist, dass die Konvention damals von den meisten Staaten nicht ratifiziert wurde. Sie blieb ein Stück Papier. 1998, als wir den Global March gegen Kinderarbeit starteten, da forderten wir auch eine neue Konvention. Dadurch wuchs auch die Sensibilität für Kinderarbeit. Ein Jahr später verabschiedete die ILO die Konvention gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit, und dann wurde auch die Konvention von 1973 ratifiziert, durch 168 Staaten. Ohne den Widerstand der Zivilgesellschaft wäre das nicht passiert. 168 - das ist auch die Zahl der Kinderarbeiter. In Millionen. Aber vergessen Sie nicht: Es waren 260 Millionen Ende der 1990er-Jahre. Fast hundert Millionen Kinder konnten gerettet werden. Das zeigt, dass sich die Dinge bessern können. Aber selbst wenn ein einziges Kind in Gefahr wäre, dann ist die Menschheit in Gefahr. Wir müssen alle beschützen.

Da würde ihnen niemand widersprechen, auch nicht in Deutschland. Dennoch konsumieren viele Deutsche auf Kosten von Kindern, beim Kauf von Teppichen, T-Shirts, Elektronik, an denen Kinderhände gearbeitet haben. Was empfehlen Sie deutschen Verbrauchern?

Konsumenten haben riesige Macht, und ich habe großes Zutrauen in diese Macht. Bei der Teppichindustrie haben wir es geschafft, das Mitgefühl einzelner in eine Aktion vieler umzuwandeln. Es ging darum, ihnen eine Stimme zu geben: Sie mussten danach verlangen, Teppiche ohne Kinderarbeit zu kaufen.

Kailash Satyarthi ist ein indischer Kinderrechts- Aktivist. Am 10. Oktober 2014 wurde ihm der Friedensnobelpreis zuerkannt. Satyarthi ist 61 Jahre alt. (Foto: Chandan Khanna/AFP)

Sie meinen das Rugmark-Siegel, das Sie 1995 selbst mit einführten.

Ja, und das ist in anderen Bereichen genauso möglich. Wenn Konsumenten nur eine bestimmte Art von T-Shirts, Fußbällen, Wäschetrocknern kaufen, frei von Kinderarbeit, dann kann sich keine Industrie dem entziehen. Es geht nicht um Boykotte, sie lösen die Probleme nicht. Wir müssen Alternativen finden und die Gewohnheiten von Verbrauchern berücksichtigen. Wir müssen Mitgefühl, Moral und Ethik in eine Verhaltensänderung der Industrie übersetzen. Darum geht es.

Aber gibt es die Industrie überhaupt? Im Zweifel sind die Kinder beim Subunternehmer vom Subunternehmer beschäftigt.

Aber auch beim Subunternehmer vom Subunternehmer gibt es Arbeiter mit Smartphones. Wenn Marke A aus Indien für Marke B in Deutschland zuliefert, mögen beide beteuern, dass sie klare Richtlinien gegen Kinderarbeit haben. Aber sie sind nicht davor gefeit, dass irgendwann herauskommt, dass es anders ist. Auch Arbeiter vor Ort können das enthüllen. Die Tage, in denen sich ein Unternehmen mit sozialen Errungenschaften schmücken konnte, insgeheim aber Kinder beschäftigte, sind vorbei. Die Presse ist zu wachsam, soziale Medien sind überall.

Gleichzeitig stehen die Unternehmen aber unter immer stärkerem Wettbewerbsdruck, schon durch die Globalisierung. Drückt das nicht die Standards?

Gäbe es eine stärkere Neigung zu ethischen Produkten, wäre es umgekehrt. Wenn Konsumenten aber nur auf den Preis achten, wird es schwierig in der Globalisierung. Dann haben diejenigen, die mit Kinder- oder Sklavenarbeit billige Produkte herstellen, Vorteile. Eine Globalisierung ohne Herz, ohne Seele, ohne Mitgefühl wird ein Desaster. Wir globalisieren Märkte, Technologien, Produkte, alles. Aber wir müssen auch menschliches Mitgefühl globalisieren. Wenn wir weiter den Planeten ausbeuten, Menschen ausbeuten, den Frieden ausbeuten, werden wir keinen Wohlstand haben. Deshalb braucht es soziale Bewegungen, um all diese Probleme anzusprechen.

Wofür oder wogegen sollte sich ein Sechsjähriger heute einsetzen?

Definitiv sollte er sich bemühen, möglichst viel über das Leben anderer Kinder zu erfahren. Eine globale Menschlichkeit beginnt mit dem Wissen, nicht alleine zu sein: Du bist kein spezieller Typ, weil du in Deutschland oder Amerika oder sonst wo geboren bist. Du bist ein Teil vom Rest der Kinder der Welt. Und einige deiner Schwestern und Brüder hatten nicht genug Glück, um in deiner Situation geboren zu werden. Aber trotzdem gehört ihnen der Planet so sehr wie dir. Dieses Wissen, diese Verantwortung ist der Schlüssel zur Zukunft.

© SZ vom 09.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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