Juristische Begründung für vorgezogene Bundestagswahl:Regierung befürchtet "instabile politische Lage"

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Die Bundesregierung wird an diesem Dienstag das Bundesverfassungsgericht durch ihren Prozessbeauftragten, den Rechtsprofessor Bernhard Schlink, auffordern, die vorgezogene Wahl zuzulassen. Zur Begründung verweist sie auf die "Instabilität der politischen Lage" und die "Schwierigkeiten der Reformpolitik".

Helmut Kerscher und Heribert Prantl

Die Abgeordneten Werner Schulz und Jelena Hoffmann haben beantragt, die Auflösung des Bundestages für verfassungswidrig zu erklären. Die Kläger warnen vor einer Schwächung der parlamentarischen Demokratie. Das Urteil wird für Ende August erwartet.

Schlink orientiert sich in seinem Schriftsatz für das Karlsruher Gericht im Wesentlichen an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983, als der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) nach einem gewonnenen Misstrauensvotum gegen seinen Vorgänger Helmut Schmidt (SPD) den Bundestag neu wählen ließ.

Er betont zum einen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der am 1. Juli von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gestellten Vertrauensfrage mit dem Ziel, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen herbeizuführen. Schlink würdigt besonders den "Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum" des Bundeskanzlers sowohl gegenüber dem Bundespräsidenten als auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.

Letzteres dürfe nicht ohne Not von seinem Urteil aus dem Jahr 1983 abgehen. Von einer Not könne aber nicht die Rede sein. Es spreche nichts dafür, dass der von Schröder beschrittene Weg zur Neuwahl leichtfertig, unverantwortlich oder verfassungswidrig eingeschlagen worden sei.

Niederlagen bei Wahlen

Breiten Raum widmet Schlink der Prognose von Bundeskanzler Schröder, es gebe eine "politische Lage der Instabilität". Diese von Karlsruhe im Jahr 1983 geforderte Voraussetzung für eine vorgezogene Auflösung des Bundestags müsse sich auch auf die Zukunft beziehen, betont er.

Von einer solchen Prognose könne nicht letzte Sicherheit, sondern nur Plausibilität verlangt werden. Konkret gebe es mehrere Indizien für die Richtigkeit der Gesamteinschätzung der politischen Lage durch den Bundeskanzler als einer Lage der Instabilität. Insbesondere habe es heftige Richtungskämpfe und Auseinandersetzungen innerhalb der rot-grünen Koalition um die Agenda 2010 gegeben, also um den zentralen Bestandteil der Politik Schröders.

Niederlagen der SPD bei Landtagswahlen, besonders der Wahl in Nordrhein-Westfalen, wo die SPD nach 39 Jahren die Macht an die CDU abgeben musste, und den Wahlen zum Europäischen Parlament hätten zu einer großen Verunsicherung der SPD-Abgeordneten geführt. Auch sei die Mehrheit der Regierungskoalition durch den Wegfall zweier Überhangmandate äußerst knapp geworden.

Dies wirke sich besonders negativ für die Regierung bei Einsprüchen des Bundesrats aus. Bei einer Bestätigung der Politik des Kanzlers durch die Wähler könne der Bundesrat seine Blockadehaltung aufgeben oder entschärfen. Frühere Abstimmungsmehrheiten der Regierungskoalition änderten nichts an der Plausibilität der Einschätzung Schröders, dass für die Zukunft eine politische Lage der Instabilität vorhanden sei, argumentiert Schlink.

Der Bundespräsident hat Schlink zufolge diese Beurteilung durch den Kanzler im Wesentlichen hinzunehmen, weil eine andere Einschätzung nicht eindeutig vorzuziehen sei. Seine Ermessensentscheidung, den Bundestag aufzulösen, sei daher fehlerfrei und von Karlsruhe nur "sehr beschränkt zu kontrollieren". Dies habe das Verfassungsgericht selbst in dem Urteil 1983 formuliert.

Disziplinierung des Parlaments

Die Gegner der Neuwahl warnen vor negativen Folgen für die parlamentarische Demokratie und die Freiheit des Abgeordneten. Sie beantragen, die Parlamentsauflösung und die Neuwahlanordnung durch den Bundespräsidenten für verfassungswidrig zu erklären. Nach Ansicht von Professor Wolf-Rüdiger Schenke, der den Abgeordneten Schulz vertritt, liefe das darauf hinaus, dass künftig "nicht mehr der Kanzler dem Parlament, sondern das Parlament dem Kanzler verantwortlich ist".

Der Staatsrechtler Hans-Peter Schneider, der die Abgeordnete Hoffmann vertritt, warnt das Gericht davor, zu viele Ermessensspielräume im Rahmen des Artikels 68, der die Vertrauensfrage regelt, zuzulassen.

Eine "Ermessenskaskade", der sich auch noch das Verfassungsgericht anschlösse, wäre "der Totengräber des auf Höchstmaß an Stabilität angelegten parlamentarischen Regierungssystems" und auch unvereinbar mit der "für die repräsentative Demokratie essentiellen Freiheit der Abgeordneten". Vom freien Mandat bliebe nichts übrig, wenn der Kanzler quasi nach Belieben Neuwahlen betreiben und so die Parlamentarier disziplinieren könne.

Mehrere kleinere Parteien dürfen sich nicht an die Klagen von Schulz und Hoffmann anhängen. Karlsruhe begründete dies damit, die rechtlichen Interessen seien zu unterschiedlich.

© SZ vom 9.8.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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