Johannes Rau:Der Ratgeber der Republik

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Besonnen und bibelfest wollte er die Politik menschlicher machen - in all seinen Ämtern hat der SPD-Politiker das Land und seine Partei geprägt.

Heribert Prantl

Nein, keinen Abschiedsabend, kein Brimborium. Einfach aus der Tür treten, die Treppe vom Schloss Bellevue hinunter spazieren, ins Auto steigen, von Berlin nach Spiekeroog fahren - mit Ehefrau Christina, mit einem guten Gefühl und mit der Welt zufrieden. Nach vielen Jahren wieder einmal selbst am Steuer auf einer langen Strecke, als Bürger Johannes, Bundespräsident a. D. So hatte sich Johannes Rau seinen Abschied aus dem Amt des Bundespräsidenten vorgestellt:

Kilometer für Kilometer das höchste Staatsamt hinter sich lassen, dabei spüren, wie einem leicht wird, herrlich leicht, wie die süße Bürde abfällt, spüren, wie man sich verwandelt - vom Großvater der Nation zum ziemlich alten Vater einer immer noch ziemlich jungen Familie. Und wieder Zeit haben, viel Zeit haben. Schon noch Reden halten und Grußworte, aber nicht mehr so viele, nicht mehr alle zwei Tage, wie in den fünf Jahren als Bundespräsident. Aber niemandem mehr etwas beweisen müssen. Es war ja alles bewiesen: Die Gegner und Skeptiker von einst waren beinahe Bewunderer Raus geworden.

Ein stiller, bescheidener Abschied mit innerem Stolz und eine entspannte Zeit als Spitzenpolitiker außer Dienst. Das war es, was Johannes Rau sich gewünscht hatte. Es ging schließlich keine Dynastie zu Ende, sondern nur eine Amtszeit und ein langes politisches Leben. Er hatte so oft und bei so vielen Gelegenheiten den richtigen Ton getroffen - ob er nun dem Hausmeister aus Castrop-Rauxel oder dem großen Berthold Beizt einen Orden überreichte.

Nun wollte er zum eigenen Abschied seinen eigenen Ton finden, zu sich selber sagen, insgeheim: "Chapeau, Herr Präsident, Adieu!" Und dann, in aller Ruhe, das anpacken, was er sich vorgenommen hatte für die Zeit danach: "Ich werde manches aufschreiben. Ich habe so viel Schönes, Aufregendes und gelegentlich auch Bedrückendes erlebt, dass ich das nicht nur meinen Kindern erzählen möchte, sondern auch anderen - damit sie möglicherweise lernen, wie man Politik menschlicher machen kann, als sie ist." So hatte er es im November 2003 im Interview mit der Süddeutschen Zeitung angekündigt.

Skatspieler und Erzähler

Aus all diesen Wünschen ist nichts geworden. Am Freitag ist er in Berlin im alter von 75 Jahren gestorben, im Kreis seiner Familie. Die Zeit seit seinem Abschied vom Amt war eine Zeit der Krankheiten, eine Zeit, in der Krankenhäuser für Rau das waren, was ihm früher Landtag, Bundestag und Bundesrat waren. An die Stelle von Terminen mit Staatsoberhäuptern, Parteichefs und Botschaftern traten Termine mit Fachärzten, Internisten und Herzspezialisten.

Es war wenig Zeit für die Pflege alter Freundschaften, wenig Zeit zum Schreiben. Es war eine Zeit des Leidens, das Rau tapfer und oft mühsam scherzend trug. Johannes Rau liebte alte Wörter: "Siechtum" ist ein schlimmes altes Wort. Es traf ihn selber.

Eine Serie von Erkrankungen packte ihn gleich nach dem Abschied aus Schloss Bellevue. Es begann mit seltsamen Atembeschwerden im Juli 2004 auf Spiekeroog. "Ich krieg' keine Luft mehr", hat er immer und immer wieder gesagt, er fühlte sich malad, war aber nicht sonderlich beunruhigt. Es war ja eigentlich alles geschafft, nun war auch wieder Zeit dafür, krank zu sein. Die Familie drängte ihn zur großen Untersuchung.

Er fuhr in eine Klinik nach Bad Wiessee, ließ sich durchchecken: Herzklappenfehler! Er war nicht kurfähig. In einer Spezialklinik in Erkenschwick, einem Haus, dessen Bau und Ausbau er einst als Landesvater selbst betrieben hatte, wurde die Herzklappe ausgetauscht, die Operation "gelang hervorragend", wie er selbst erzählte.

Rau ging als Rekonvaleszent zurück nach Bad Wiessee. "Die lange Narkose zieht an einem", sagte er zu seinen Freunden. Er schien sich aber zunächst gut zu erholen. Aber irgend etwas stimmte nicht: Er konnte weder richtig essen noch trinken. "Das führte dazu", so erklärte er in einem Interview im Berliner Tagesspiegel, "dass die Medikamente nicht angemessen wirkten. Es kam deshalb zu inneren Blutungen, und ich musste mich zwei Bauchoperationen unterziehen." Das war im Mai 2005. Johannes Rau selber sprach von einer "schweren Zeit".

Die erzwungene Untätigkeit habe ihm schwer zu schaffen gemacht. Rau glaubte damals, nun sei die Phase der Genesung endlich gekommen. Er blieb guter Dinge, auch wenn es ihm nicht so gut ging, und spielte Skat. Er war von heiterer Natur. Aber er erholte sich nie mehr richtig.

Termine wollte er gar nicht mehr annehmen, weil er stets fürchtete, sie wieder absagen zu müssen. Die Einweihung der Frauenkirche in Dresden am 30.Oktober 2005 war sein letzter öffentlicher Auftritt, er wirkte zart und zerbrechlich und verließ die Veranstaltung vorzeitig. Bei der Feier zu seinem 75.Geburtstag vor einigen Tagen, zu der Horst Köhler, sein Nachfolger als Bundespräsident, ins Schloss Bellevue eingeladen hatte, fehlte die Hauptperson. Er hatte die Kraft nicht mehr.

Einer, der Wege wies

Johannes Rau, der so viel Post persönlich beantwortet hat, der jeden Morgen um sechs Uhr früh am Schreibtisch saß, der hingebungsvoll und mit liebenswürdig herzlicher Akkuratesse im Lauf der Jahre Tausenden Bürgerinnen und Bürgern geschrieben hat, konnte seine Erinnerungen nicht mehr aufschreiben. Vielleicht wäre es die schönste Sammlung von Anekdoten geworden, die es hierzulande gibt; Rau war ein Meister im Erzählen von Schnurren und Witzen.

Sein Repertoire war schier unerschöpflich, die schönsten Anekdoten hat ihm das Leben selbst beschert - wie die kleine Geschichte vom Herbsttag in Oberbayern: Johannes Rau saß vor einer Berghütte in der Nähe von Elmau, dazu gesellte sich ein Tourist mit Kniebundhose und Gamsbart. "Darf ich Sie mal was fragen?", beginnt der Mann die Unterhaltung. "Passiert es Ihnen oft, dass Sie mit dem Bundespräsidenten verwechselt werden?" Ja, ja, das passiere ihm öfter, antwortet Rau. "Und das ist Ihnen nicht peinlich?", fragt der Mann weiter. "Eigentlich nicht", erwidert Rau, "denn - ich bin es ja!"

Er war es wirklich mit Leib und Seele, ein überparteilicher, sehr politischer Präsident. Nach Anlaufschwierigkeiten war er ein viel schärferer und pointierterer Redner, als ihm das viele zugetraut hatten. Kein Präsident der erhabenen Unverbindlichkeit, sondern einer, der Wegweiser aufgestellt hat in den großen Debatten der Zeit - Globalisierung, Umgang mit Ausländern, Gentechnik, Krieg und Frieden. Er hat das Amt des Bundespräsidenten nicht nur bekleidet, er hat es auf kluge, wohltuende Weise geführt.

Über Rau hieß es schon in den alten Zeiten der Bundesrepublik, als die Regierung noch in Bonn saß, er dementiere Nietzsche. Der Philosoph hatte nämlich bissig gefragt, warum die Christen immer so unerlöst ausschauten. Johannes Rau war ein erlöster Calvinist aus dem Bergischen Land, er war der wohl bibelfesteste deutsche Politiker - einer der Wenigen, die mit dem Kürzel Koh 3,1 - 8 ohne Zögern etwas anfangen konnten.

Es handelt sich um die Stelle in der Bibel, genauer gesagt im Buch Kohelet, die überschrieben ist mit: "Alles hat seine Zeit." Es sind Zeilen von beeindruckender und tröstender Kraft, die bei den großen Ereignissen im Leben, freudigen wie traurigen, gern zitiert werden. Als er Schloss Bellevue hinter sich ließ, hat Rau solchen Trost nicht gebraucht. In den vielen Monaten der Krankheit danach sehr wohl.

Die letzten Stunden als Bundespräsident, damals, am 30. Juni 2004, sahen übrigens doch ein bisschen anders aus, als Johannes Rau sich das selber ausgemalt hatte. Es war kein ganz stiller Abschied - und es war seine Frau Christina, die ihm da einen Strich durch die Rechnung machte. Sie spielte nämlich den Lockvogel auf Bitten des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Peer Steinbrück, des Nach-Nachfolgers von Rau in diesem Amt. Christina Rau also überredete ihren Gatten am letzten Bundespräsidenten-Abend, es war ein Mittwoch, noch in die "Eckkneipe" am Lützowufer zu fahren, wo man sich schon oft mit den Clements getroffen hatte. Rau schaute allerdings dann, wie Beobachter erzählen, "ziemlich kariert", als das Auto stattdessen den Weg zur nordrhein-westfälischen Landesvertretung einschlug.

Rau wurde die Treppe hinunter geführt, und unten warteten 30Jahre Nordrhein-Westfalen, ein Überraschungsfest- fast alle waren da, die den einstigen Oberbürgermeister von Wuppertal, den Wissenschaftsminister in Düsseldorf, den Landesvater, den SPD-Kanzlerkandidaten, die Vaterfigur der SPD, den lange beliebtesten deutschen Politiker irgendwann und irgendwie begleitet hatten. Steinbrück hielt eine schöne Rede -und Rau war gerührter, als er es zeigen wollte. Als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hatte er zu denen gehört, die im großen Hauptstadt-Streit nach der Wiedervereinigung den Sitz der Regierung im nordrhein-westfälischen Bonn behalten wollten. Nun also war, zum Abschied, das politische Nordrhein-Westfalen nach Berlin gekommen - und begrüßte ihn wieder "zu Hause".

Eine besondere Sorge hatte Rau zur Zeit, als die große Krise der Regierung Schröder begann. Sie galt weniger seiner Gesundheit, sondern dem möglichen Wunsch der Partei, ihn wieder einzuspannen.

Seit Sommer 2004 wurden die Sozis in der SPD rar, und die Menschen an der Basis sahen oben an der Regierung nur noch neoliberale Reformer - da erschien Rau wieder einmal als sozialdemokratische Lichtgestalt, er wurde angerufen und angefleht, als verkörpere er allein die 14 Nothelfer: Er solle sich wieder engagieren, den Reformen Maß und Ziel geben. Rau war zwar einerseits ob der Notrufe geschmeichelt, aber auch nicht undankbar dafür, dass er sich ihnen, schon krankheitshalber, also für Genossen gut begründet, entziehen konnte.

Er hatte Angst davor, so nachträglich zu einem parteilichen Bundespräsidenten zu werden, zu einem, von dem es heißt, er habe sein Sozi-Mäntelchen nur vorübergehend in die Präsidentengarderobe gehängt. Er fürchtete, mit den von ihm erhofften sozialdemokratischen Aktivitäten könnte er mit eigener Hand das Wunder des Johannes Rau zerstören - seine vielleicht größte Leistung seit 1952.

Das Wunder des Johannes Rau

Damals machte er den Schritt in die Politik und trat aus Protest gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in die Gesamtdeutsche Volkspartei Gustav Heinemanns ein, dem er dann, nach der Auflösung der Partei, in die SPD folgte. Das Wunder des Johannes Rau bestand darin, dass er in den ersten zwei Jahren seiner Präsidentschaft, zäh und gelegentlich nah an der Resignation, die Vorurteile seiner Kritiker widerlegte.

Bei Amtsantritt galt er als einer, der seine Kraft damit verschlissen hatte, Bundespräsident zu werden, und der nun keine Kraft mehr hatte, es auch noch zu sein. Eine erste schwere Krankheit bald nach seiner Wahl galt dafür als Beleg. Zwei Jahre lang war Rau der Präsident der hinteren Zeitungsseiten, allenfalls eine angebliche Flugaffäre aus seinen Düsseldorfer Zeiten als Ministerpräsident fand den Weg auf Seite eins.

Johannes Rau stand vermeintlich als Petrefakt auf dem Neuen Markt, als Austragspräsident, als einer, der die neue Zeit nicht mehr versteht. Und erst, als der Neue Markt zusammengebrochen und die Energie des neuen SPD-Kanzlers verpufft war, als die Reformen über Deutschland hereinbrachen und die Ratlosigkeit wuchs - da begann sich das Land wieder daran zu erinnern, dass es einen erfahrenen Bundespräsidenten hatte. Und es entdeckte, dass der schon sehr bemerkenswerte Reden gehalten hatte.

Allmählich schlug auch die veröffentlichte Meinung um - von Desinteresse und Ablehnung in Respekt, ja Verehrung. Im Schock des 11.September 2001 fand Deutschland sein Staatsoberhaupt wieder: Auf einmal war das Echo seiner Reden wieder da. Rau sagte damals eigentlich nur Selbstverständlichkeiten, Dinge, die jedenfalls in normalen Zeiten Selbstverständlichkeiten sind, die es aber damals nicht waren.

Wie viele sprach er vom Angriff der Terroristen auf die Zivilisation, mahnte, darauf "mit zivilen Mitteln" zu reagieren. Rau gebrauchte Sätze, denen viele Menschen zustimmen konnten, die irritiert waren, dass ihre Ängste von den wichtigen deutschen Politikern zunächst als feige Weinerlichkeit und Drückebergerei gewertet wurden. Rau wurde zum Ratgeber der Republik, dem seine lange politische Vita nicht Hypothek, sondern Fundus war.

Wie kein Präsident vor ihm war Rau ein Präsident des Worts. Ihn kennzeichnet nicht, wie Richard von Weizsäcker, die eine ganz große, historische Rede. Er hat ein halbes Dutzend Reden gehalten, die das Prädikat "außergewöhnlich und merkenswert" verdienen: Die Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset, ist von der israelischen Presse einhellig als "historisch" bezeichnet worden. Sie fiel noch in die Phase, in der Rau als Bundespräsident von den Deutschen kaum beachtet wurde.

Zum ersten Mal wurde am 6. Februar 2000 am Pult der Knesset Deutsch gesprochen, wohl keinem anderen Deutschen wäre das erlaubt worden als ihm, der zuvor als SPD-Spitzenpolitiker 33Mal im Heiligen Land gewesen war. Raus Berliner Rede zur Biopolitik vom 18. Mai 2001 wird womöglich eines Tages als ähnlich bedeutend gewürdigt werden wie jene Richard von Weizsäckers zum 40.Jahrestag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg. Rau warnte in sehr eindringlichen Worten davor, alles zu machen, was machbar ist.

Versöhnung als Vermächtnis

In seiner letzten Berliner Rede im Mai 2004, einer großen Mutmach-Rede, warb der Präsident um "Vertrauen in Deutschland". Seine Mahnung an die wirtschaftlichen und politischen Eliten, sich so zu verhalten, dass solches Vertrauen wieder wachsen kann, ließ an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. Diese Rede war das geläuterte Fazit eines Politikerlebens, das Vermächtnis eines Präsidenten, dem das Versöhnen wichtig war.

Hätte man die Feier zu seinem 75.Geburtstag in Schloss Bellevue absagen sollen, als klar war, dass "seine Tagesform sein Erscheinen nicht zuließ", wie Horst Köhler das zur Begrüßung formulierte? Es entspreche seinem Wunsch, ließ Rau durch Köhler wissen, dass seine Freunde ihn feierten. Weil auch seine Frau nicht von der Seite des kranken Mannes hatte weichen wollen, saßen Raus drei Kinder in der ersten Reihe im strahlend hell renovierten großen Saal des Schlosses und nahmen die Honneurs entgegen. Sie hörten die Rede über das Wirken ihres Vaters, die fast schon wie ein Nachruf klang. Die Sonate in C-Moll von Johann Sebastian Bach trug zur Aufheiterung nicht bei. Erst als Anna Rau, die älteste Tochter, ans Mikrofon trat, und mit herzlichen Worten darüber sprach, wie gern der Vater gekommen wäre - da schien der Jubilar auf einmal fast körperlich im Raum zu sein.

Johannes Rau, am 16. Januar 1931 als Sohn eines Kaufmanns mit Nebenberuf Prediger geboren, war gelernter Buchhändler, und er wurde in der SPD und mit ihr fast alles, was man werden konnte - vom Unterbezirksvorsitzenden bis zum Parteichef. Er war Berufspolitiker in einem schönen Sinn des Wortes; für ihn gehörte Berufung dazu. Als Politiker und Christ hat er diese Republik geprägt wie kaum ein anderer. Er bleibt ein Beispiel dafür, dass man einem Politiker Gutes zutrauen darf.

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