Debatte um Impfstoff für Deutschland:Impfstoff Mangelware, Kritik im Überfluss

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"Jens Spahn macht einen prima Job": Kanzlerin Angela Merkel lobt ihren Gesundheitsminister. (Foto: Pool/Getty Images)

Den Wahlkampf vor Augen attackiert die SPD Jens Spahn. Die Kanzlerin lobt ihren Minister - und formuliert eine pikante Drohung an die Ministerpräsidenten.

Von Nico Fried und Mike Szymanski, Berlin

Ein knappes Kopfschütteln und ein kurzes Lachen. Das ist die erste Reaktion der Kanzlerin, als sie am Dienstagabend nach ihrer Zusammenarbeit mit Jens Spahn gefragt wird; danach, ob sie den Gesundheitsminister vielleicht sogar entmachtet habe wegen etwaiger Versäumnisse bei der Beschaffung von Impfstoff. Ein Kopfschütteln und ein Lachen von Angela Merkel, das soll heißen: Was da immer alles so geschrieben wird.

Doch bei dieser Reaktion allein wird es nicht bleiben. Denn der Gesundheitsminister kann Beistand brauchen, gerade auch nach diesem Tag und einer lebhaften Sitzung mit Merkel und den Ministerpräsidenten, vor allem denen von der SPD.

Der Auftritt danach ist Merkels erste Pressekonferenz 2021. Seit dem 27. Dezember wird geimpft in Deutschland, und zu Beginn sagt die Kanzlerin, damit gebe es nun "eine Perspektive für die Normalisierung unseres Alltags". Was es aber auch gibt, ist eine Diskussion, ob Deutschland zu wenig Impfstoff abbekomme, ob sich die Regierung zu wenig um die Verhandlungen der Europäischen Kommission mit den Herstellern gekümmert habe und welcher Schaden dadurch entstanden sei.

Es ist eine Diskussion, die in den sozialen Medien begann und vor allem über die Bild-Zeitung auch die große Koalition befiel - eine Verbreitung, dem Weg eines Virus nicht unähnlich. Die SPD nahm zuletzt den Gesundheitsminister ins Visier, machte ihn für den holperigen Impfstart verantwortlich und krönte den Angriff mit einem vierseitigen Fragenkatalog, um dessen Beantwortung Finanzminister Olaf Scholz den Kollegen Spahn am Montag im Corona-Kabinett bat. Das warf umgekehrt die Frage auf, warum der in der Regierung nicht unbedeutende Vizekanzler das alles jetzt erst wissen will.

Michael Müller: "Das ist kein Pillepalle."

In der Sitzung ging die Offensive der SPD munter weiter. Michael Müller, der Regierende Bürgermeister von Berlin und amtierende Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), beschrieb, was der aktuelle Mangel konkret bedeute. So falle eine von vier zugesagten Lieferungen des Biontech-Impfstoffs im Januar aus. Das bringe die Länder in Schwierigkeiten bei der Terminplanung. "Das ist kein Pillepalle." Brandenburgs Landeschef Dietmar Woidke erinnerte daran, dass man das Personal an den Impfzentren vorhalten müsse, obwohl kein Impfstoff da sei. Auch Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz) und Andreas Bovenschulte aus Bremen äußerten sich kritisch. Nur Scholz schwieg zu diesem Thema.

Der Vizekanzler wird am nächsten Tag wieder reden, im Morgenmagazin der ARD. Es wäre "ganz falsch", wenn sich "jemand, der Verantwortung in der Regierung hat", jetzt nicht darum kümmere, dass all die Fragen auch gestellt und beantwortet würden. Eine diese Fragen lautet: "Warum hat die Europäische Kommission insgesamt so wenige Dosen vorbestellt und nicht auch größere Mengen an Optionen gesichert?" Dazu muss man wissen, dass der Kanzlerkandidat die Zusammenarbeit in und an Europa zu einem seiner drei Hauptthemen für den Bundestagswahlkampf auserkoren hat und es aus seiner Perspektive etwas schief klingt, wenn auch nur der Eindruck entstehen kann, Europa sei das Problem.

Überhaupt läuft es ja mit dieser Kanzlerkandidatur nicht wirklich rund. Im August hatte die SPD-Führung Scholz nominiert, viel früher als sie sonst die Kandidatenfrage klärte. Sie wollte Ruhe in die Partei bringen und Zeit gewinnen, damit Scholz in die neue Rolle findet. Dann aber passierte nicht viel, vor allem in den Umfragen nicht. Die Zwischenbilanz zum Jahreswechsel fiel in der SPD-Führung ernüchternd aus: So könne es nicht weitergehen. Bislang hat nur die Union vom gemeinsamen Pandemie-Management profitiert. So gilt neuerdings in der SPD: Warum schweigen, wenn ohnehin alle nur über Corona reden und es etwa für einen Konkurrenten wie Jens Spahn mal nicht so gut läuft. Das Wahljahr hat begonnen, Pandemie hin oder her.

Die Kanzlerin berichtet in der Pressekonferenz, die Runde habe sich mit dem Thema Impfen "sehr lange beschäftigt". Aber das Ergebnis ist aus ihrer Sicht eindeutig. Bund und Länder hätten begrüßt, dass es eine gemeinsame Bestellung der EU gegeben habe. Das stimmt. Aber einfach war es nicht.

Den europäischen Weg der Beschaffung stellte in der Ministerpräsidentenkonferenz zwar niemand zur Debatte, trotzdem gab es immer wieder Fragen zur deutschen Strategie und Kritik am Vorgehen der EU-Kommission - so viel, dass es der Kanzlerin zu viel wurde: "Wenn ich mal auspacke, was wir schon für Fehler gemacht haben in dieser Runde", sagte Merkel, "dann wird's aber lustig." Sie finde es schon "sehr selbstbewusst, wie wir hier über andere urteilen".

Und Spahn? Der Minister wählte eine Mischung aus Verteidigung und Charme-Offensive. Er lenkte den Blick auf andere Länder wie die Niederlande, die erst jetzt mit dem Impfen beginnen würden. Er wiederholte sein Argument, dass nicht die Bestellmengen das Problem seien, sondern die Produktionskapazitäten. "Ich kann noch zehn Verträge schließen, aber es wird am Anfang trotzdem nicht schneller gehen." Geht es nach Scholz, dann darf er dies auch gerne noch mal schriftlich klarstellen. Ohne "transparente Beantwortung all dieser Fragen" werde man nicht weiterkommen, sagte er am Mittwoch, offenbar entschlossen, nicht beizudrehen.

Spahns Charme-Offensive äußerte sich in Reue über ein Interview, in dem er von "föderalem Durcheinander" gesprochen hatte. Gerne hätte er sich da auf die Zunge gebissen, befand der CDU-Politiker, und lieber von föderaler Vielfalt gesprochen. Und als Manuela Schwesig den Auftritt Spahns in nordrhein-westfälischen Impfzentren monierte, versprach der Minister: "Ich komme auch gerne nach Mecklenburg-Vorpommern, Manu."

Angela Merkel, die in 15 Jahren Kanzlerschaft Erfahrung damit gesammelt hat, besonders hitzigen Debatten mit betont nüchterner Tonlage zu begegnen, fasst die Diskussion später in der Pressekonferenz so zusammen: "Hier haben sich eine ganze Reihe von Fragen gestellt." Michael Müller gibt sich in der Pressekonferenz versöhnlich und lobt zunächst, dass nun Klarheit herrsche, "wie verlässlich und wie planbar" die nächsten Lieferungen sein würden. Aber Müller schickt noch eine letzte Mahnung hinterher: Die Länder seien gut vorbereitet, nun müssten die Lieferungen des Impfstoffs durch den Bund "verstetigt werden".

Erstaunlich viel Lob für Spahn von Merkel

Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident und Müllers Stellvertreter im Vorsitz der MPK, findet, dass vielleicht zu Beginn der Impfaktion "von dem einen oder anderen zu viel Euphorie versprüht worden" sei. Wen er damit meint, sagt er nicht. Der europäische Weg habe "viele Vorteile", findet Söder und fügt hinzu: "Es ist aber auch nicht verkehrt, sich ums eigene Land zu kümmern." Deshalb finde er es gut, dass die Kanzlerin das Thema an diesem Tag "mit zur Chefsache gemacht hat".

Hat sie?

Die schnelle Entwicklung und der Impfbeginn nur vier Tage nach der Zulassung habe vielleicht zu der Erwartung geführt, dass schon so viel Impfstoff vorhanden sei, wie man brauche, sagt Merkel. Das sei "im Augenblick und im ersten Quartal" des Jahres 2021 "noch nicht so".

Es gehe nun darum, die Produktionskapazitäten zu erhöhen. Biontech werde vielleicht schon im Februar im hessischen Marburg eine zweite Produktionsstätte nutzen können. Um weitere werde man sich bemühen. "Es soll jedenfalls an keinerlei staatlicher Aktivität scheitern, dass schnell weiterer Impfstoff produziert werden kann." Schon am Mittwoch traf sich Merkel dazu mit Spahn, Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Es war die Formierung dieser neuen Gruppe - eine Art Impfstoffkabinett -, die den Verdacht hatte aufkommen lassen, Merkel habe ihren Gesundheitsminister entmachtet.

Knappes Kopfschütteln und ein kurzes Lachen. Und dann erzählt die Kanzlerin noch einmal den ganzen Weg der europäischen Beschaffung, wobei die politisch wichtigen Sätze so lauten: Sie sei mit Spahn in einem "ständigen und intensiven Austausch gewesen". Sie habe "sehr begrüßt", dass der Minister auf andere europäische Länder zugegangen sei. Den Prozess habe sie "positiv begleitet" und den Gesundheitsminister hier "in jeder Phase unterstützt".

Die Frage, ob sie noch volles Vertrauen in ihren Minister habe, die Merkel gestellt wurde, findet sie überflüssig. "Jens Spahn macht einen prima Job jetzt in den gesamten Tagen." Für Merkels Verhältnisse ist das schon auffallend viel Lob.

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