Italien:Das große Dekret und seine Fallstricke

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Die Vizepremiers Luigi Di Maio und Matteo Salvini haben auch miteinander lange um das Gesetz gerungen. (Foto: Tony Gentile/Reuters)

Die Regierung in Rom macht sich an die Einführung von Bürgerlohn und Frührente. Alles an dem Vorhaben ist kompliziert.

Von Oliver Meiler, Rom

Die Italiener wissen jetzt, was es braucht, um als arm und hilfsbedürftig zu gelten. Neben herkömmlichen Indikatoren gibt es dafür auch erstaunliche, etwa Hubraum, Zylinder und Pferdestärken. Wer sich in den vergangenen sechs Monaten zum Beispiel ein neues Motorrad mit 250 ccm oder ein neues Auto mit einem 1,7-Liter-Motor gekauft hat, der kann heute unmöglich arm sein. So jedenfalls hat das die italienische Regierung im "Decretone" festgelegt, dem großen Gesetzdekret. Darin sind alle Auflagen und Zahlen für die Einführung des Bürgerlohns und der Frührente zusammengefasst, die beiden wichtigsten Wahlversprechen von Cinque Stelle und Lega. 150 ccm? Das ist okay, damit ist man noch arm genug.

Die italienischen Medien sind voll mit Beispielen, wer einmal wie viel Geld erhalten könnte vom Staat und wer wann genau in Pension gehen darf. Bei der praktischen Umsetzung der neuen sozialpolitischen Maßnahmen liegen die größten Gefahren, nämlich Chaos und Missbrauch. Zunächst ist das "Decretone" aber vor allem eine große Genugtuung für die Populisten. Langes Ringen war ihm vorausgegangen: untereinander und mit der Europäischen Union. Die Lega mag den Bürgerlohn nicht, während die EU sowohl den Bürgerlohn als auch die Rentenreform für zu teuer hielt für einen hoch verschuldeten Staat wie den italienischen.

Nun also steht das Dekret, und beide Parteien können von sich behaupten, dass sie zu ihrem Wort stehen. Das ist nicht unwesentlich so kurz vor den Europawahlen, die im Mai stattfinden. Luigi Di Maio, der junge Vizepremier und Chef der Fünf Sterne, sprach von einem "neuen Sozialstaat", den er da "mit 32 Jahren" mitbegründe. Auch der Kollege Vizepremier von der rechten Lega, Matteo Salvini, zeigte das Lächeln großer Tage. Allerdings lag Salvini viel daran, die Position der Lega auch visuell zu unterstreichen: Beim Fototermin hielt er ein kleines Plakat hoch, auf den er nur den Slogan seiner Rentenreform gedruckt hatte, "Quota 100", den aber ganz groß. Auf Di Maios Plakat standen beide Reformen nebeneinander, in kleinerer Schrift, zuerst seine. Das mag kindisch wirken. Doch solche Spielchen schaden den Populisten bislang nicht.

Quota 100 folgt einer einfachen Rechnung: Wer vor 1956 geboren ist und seit 1980 arbeitet, kann neu schon ab April in Rente gehen. Mit 62 Jahren und 38 Beitragsjahren also, macht zusammen 100. Im Budget wurden dafür vier Milliarden Euro veranschlagt. 2019 kommen insgesamt 315 000 Italiener auf Quota 100.

Die ersten Löhne sollen vor der Europawahl ausgezahlt werden. Das Chaos kommt erst später

Ungefähr fünf Millionen Italiener sollen den Bürgerlohn bekommen, den "Reddito di cittadinanza". Sieben Milliarden Euro stehen dafür zur Verfügung. Als Beispiel: Ein bedürftiger oder arbeitsloser Single erhält maximal 780 Euro im Monat, als Guthaben auf einer Art Kreditkarte. Das Geld muss er bis Ende Monat restlos ausgeben für Miete oder Hypothek und Unterhalt: Es soll ja die Wirtschaft ankurbeln. Was er nicht ausgibt, verliert er. Es gibt Dinge, die mit dem Bürgerlohn nicht finanziert werden dürfen, Glücksspiel etwa. Bei Familien mit drei minderjährigen Kindern ist der Bürgerlohn auf 1280 Euro beschränkt. Die Laufzeit des Programms beträgt 18 Monate, er kann einmal verlängert werden um 18 Monate. In dieser Zeit soll der Begünstigte eine Stelle finden. Zwei Angebote darf er ablehnen, das dritte muss er annehmen, sonst fällt er aus dem Programm.

Bewerben kann man sich online ab März, so die Plattform dann freigeschaltet ist. Die ersten Bürgerlöhne sollen ab Ende April bezahlt werden. Berechtigt sind Italiener und Ausländer, die seit mindestens zehn Jahren im Land wohnen, deren ISEE, ein Indikator für die Einkommens- und Vermögenssituation, nicht mehr als 9360 Euro im Jahr beträgt. Wer den Staat betrügt, dem drohen bis zu sechs Jahre Haft. Di Maio beteuert, die Regierung habe genügend "Anti-Sofa"-Mechanismen eingebaut. Ein sogenannter "Navigator" soll die Arbeitssuchenden begleiten, 10 000 solcher Assistenten werden rekrutiert. Und: Empfänger des Bürgerlohns sollen gemeinnützige Arbeit verrichten - acht Stunden pro Woche.

Klingt fein durchdacht. Doch alles an diesem Vorhaben ist kompliziert. Die Zeitung Il Fatto Quotidiano, die den Cinque Stelle nahesteht, nennt die Umsetzung des Bürgerlohns eine "titanische Herausforderung". Die Datenbanken der verschiedenen Behörden müssen zuerst miteinander verbunden werden, die schlecht dotierten Arbeitsämter gehören völlig neu ausgestattet. Und was ist mit dieser "Card" für den Bürgerlohn: Wird die rechtzeitig fertig, und ist sie auch sicher?

Di Maio wolle die ersten Bürgerlöhne unbedingt vor den Europawahlen auszahlen, schreibt Il Fatto Quotidiano, spätestens Anfang Mai. Das Chaos, das viele voraussagen, kommt wohl erst nach den Wahlen. "Das Timing", kommentiert Corriere della Sera, "ist geradezu perfekt." Politisch wenigstens.

© SZ vom 19.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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