Israel und der Raketen-Regen:Erschütterungen bis in die Seele

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Lange schon leben die Menschen mit den Hisbollah-Angriffen - doch plötzlich steht das Leben still und die Gewissheit reift, dass diesmal alles anders ist.

Thorsten Schmitz

Der Aufschwung in Tiberias endet jäh am Samstagmittag gegen halb zwei. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt am See Genezareth schlägt eine Katjuscha-Rakete der Hisbollah ein, nahe dem chinesischen Restaurant Pagoda.

Eine Katjuscha-Rakete in Tiberias. Die Raketen hinterlassen tiefe Spuren. (Foto: Foto: dpa)

Zum Zeitpunkt der Explosion sitzt Familie Mizrachi am Mittagstisch in ihrem hübschen Einfamilienhaus mit Blick zum See. Zu Besuch bei den Eltern Menasche Mizrachi, der im Rollstuhl sitzt, und seiner Frau Elisabeth sind die zwei Töchter mit ihren Kindern.

Es wird viel geredet, viel gegessen, und zur Feier des Tages gibt es auch einen guten französischen Rotwein, weil die Eltern ihren 46. Hochzeitstag haben. Die Kinder toben im Garten und spritzen sich gegenseitig mit einem Wasserschlauch ab, als die Samstagsidylle mit einer lauten Explosion erstirbt.

"Erst dachte ich, ein Flugzeug ist abgestürzt", sagt die 69 Jahre alte Elisabeth Mizrachi am Nachmittag, wenige Stunden nach dem Raketenbeschuss.

"Wir haben schnell den Fernseher angeschaltet. Wir hatten gerade erst ausgemacht, weil wir mal in Ruhe zu Mittag essen wollten." In großer Aufmachung wird darüber berichtet, dass eine Rakete aus dem 35 Kilometer entfernten Libanon am Ufer jenes Sees eingeschlagen ist, über den Jesus gelaufen sein soll.

Der Schock aus Haifa

Den ganzen Nachmittag über sitzen die Mizrachis nun schon im Flur des Hauses und in einem der bunkerartigen Zimmer, die in Israel bei Neubauten Vorschrift sind. Sie wurden vorgeschrieben, weil man jahrzehntelang einen Raketenangriff aus dem Irak befürchtet hatte.

Dass eines Tages Katjuscha-Raketen vom Libanon aus in Tiberias, in Haifa und in Akko einschlagen würden, hatte niemand für möglich gehalten. Menasche Mizrachi kann den Blick nicht vom Fernseher wenden, die Kinder sind schlecht gelaunt, weil sie nicht mehr raus dürfen zum Spielen.

In den Straßen patrouillieren Polizeiwagen und fordern die Bewohner der 40.000-Einwohner-Stadt auf, in ihren Wohnungen und Häusern zu bleiben. Sämtliche Strände wurden geräumt, die meisten Restaurants geschlossen. Und tatsächlich: Am frühen Abend schlagen erneut zwei Katjuschas ein und verletzen einen Passanten.

Menasche Mizrachi, der vor 78 Jahren in Tiberias geboren wurde und in seinem ganzen Leben nur einmal im Ausland war, reißt die Augen fragend auf: "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Israel hat geschlafen. Seit wir aus dem Südlibanon raus sind, haben Syrien und Iran die Hisbollah mit Waffen versorgt. Aber vertreiben werden sie uns nicht."

Seine Frau Elisabeth rennt immer mal wieder in die Küche, bringt Eistee oder Eiskaffee, reicht Kuchen und Plätzchen, selbst die Servietten vergisst sie nicht. Den ganzen Nachmittag über diskutieren die Eltern mit den erwachsenen Töchtern und deren Ehemännern über "ha matzav", ein allgemeiner Ausdruck für "die Lage".

Argumente werden lautstark ausgetauscht. Die ältere Tochter Dorit, die im feinen "Scot"-Hotel an der Rezeption arbeitet, sieht eine düstere Zukunft heraufziehen: "Gerade eben haben wir uns von den Auswirkungen der Intifada erholt, jetzt werden die Touristen wieder ausbleiben."

Mehr als zwanzig Hotels hatten seit Beginn der Intifada vor sechs Jahren ihren Betrieb einstellen oder einschränken müssen. In diesem Jahr wurden erstmals wieder ausgebuchte Hotels gemeldet, auch an diesem Wochenende war alles voll. "Kein einziges Bett war mehr zu haben", sagt Dorit. Doch dann kam der Katjuscha-Einschlag.

"So schnell wird das nicht aufhören"

Am Sonntag, nach dem zweiten Beschuss aus dem Libanon, warnt der für Nord-Galiläa zuständige Polizeichef Doron Ron die Bewohner der See-Stadt vor weiteren Raketen: "So schnell wird das nicht aufhören."

Aus den meisten Hotels sind die Gäste überstürzt abgereist. Im Verkehrsfunk werden lange Staus gemeldet - in Richtung Süden. Und nach dem Beschuss der Hafenstadt Haifa, bei dem mindestens acht Israelis getötet wurden, wird über den gesamten Norden des Landes der Ausnahmezustand verhängt. Die Menschen sollen zu Hause oder in der Nähe von Bunkern bleiben.

Ganz Israel befindet sich seit Mittwoch in einem Ausnahmezustand. Selbst ältere Bewohner, die sich noch an viele arabisch-israelische Kriege erinnern können, sind fassungslos, dass das kleine Land mit der großen Armee und seinen insgesamt 540.000 Soldaten plötzlich so verletzlich ist.

Dass Raketen der Hisbollah-Miliz seit Jahrzehnten in den Norden Israels einschlagen, daran hatten sich die Bewohner von Grenzstädten wie Kiriat Schmone, Metulla und auch Naharija gewöhnt. Dass die Raketen nun plötzlich aber auch bis nach Haifa gelangen, mit 270.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes, oder nach Tiberias, das in den letzten zwei Jahren besonders durch christliche Pilger aus Nordamerika einen zweiten wirtschaftlichen Frühling erlebte, das überrascht alle.

Das Rätselraten ist groß. Ist die Taktik der neuen, nur aus Zivilisten bestehenden Regierung unter Premierminister Ehud Olmert klug, den gesamten Libanon haftbar zu machen für die von dort aus operierende Terrorgruppe, wird in den Talkshows diskutiert.

Soll Syrien angegriffen werden? Sollte man nicht Gefangene freilassen, um Menschenleben zu retten? Immerhin sind schon mehr als hundert Libanesen getötet worden. Oft wird in diesen Tagen der Vergleich angestellt zu Ariel Scharon, der zwar 1982 den damaligen Premierminister Menachem Begin zum Einmarsch in den Libanon überredet, der sich aber andererseits vor zwei Jahren auf einen Gefangenen-Handel mit der Hisbollah eingelassen hatte.

In Haifa starben mehrere Menschen bei einem Raketenangriff. (Foto: Foto: AP)

Würde die Hisbollah Israel auch mit einem Dauerregen aus Katjuscha-Raketen heimsuchen, wenn der in arabischen Staaten verhasste und zugleich gefürchtete Scharon noch die Regierungsgeschäfte führen würde?

Immer wieder werden auch die hämischen Worte des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah zitiert, der sich über die "schwache Regierung" Israels lustig gemacht hat. Alle Augen sind auf Verteidigungsminister Amir Peretz gerichtet. Die Kritik an ihm wird lauter.

Der frühere Gewerkschaftsführer, der bis vor zweieinhalb Monaten noch keinerlei militärische Erfahrung besaß, sei eine Marionette des Armee-Chefs Dan Halutz, heißt es. Schon kursieren Namen, die ihn ersetzen sollen, an erster Stelle wird Avi Dichter genannt, der frühere Geheimdienstchef und jetzige Minister für innere Sicherheit.

Im Gegensatz zu Olmert kann sich Dichter sogar vorstellen, dass palästinensische Gefangene freigelassen werden, wenn die Terrorgruppen im Gaza-Streifen den Beschuss mit Kassam-Kurzstreckenraketen einstellten.

Olmert dagegen kündigt am Sonntag erneut eine harte Reaktion als Vergeltung für den Tod von acht Menschen in Haifa an. Ein Gefangenenaustausch kommt für ihn nicht in Frage, die jüngste Aufforderung der Eltern der drei entführten Soldaten, man möge ihre Söhne nicht vergessen, verhallt ungehört.

Rufe nach Notstandsregierung

Zugleich werden die Rufe der rechten Oppositionsführer nach einer Notstandsregierung immer lauter. Ein ums andere Mal lässt sich Avigdor Lieberman von der extrem rechten Partei "Nationale Union" am Wochenende interviewen.

Nur eine Koalitionsregierung aus allen Parteien könne die "schwache Regierung" Olmerts im Kampf gegen die "Libanon-Terroristen" stärken, meint er. Linke Gruppen veranstalten dagegen am Sonntagnachmittag einen Friedensmarsch in Tel Aviv und verlangen einen Gefangenenaustausch.

Für politische Winkelzüge hat Virginia Lanziger nichts übrig. Es ist später Samstagnachmittag, und es ist ihr nicht gelungen, auch nur ein Auge für "eine Minute" zu schließen. Sie steht in ihrer Küche im Gemeinschaftsdorf Hagoschrim im Norden Israels und rührt Milch in einen Nescafe.

Hagoschrim war bis vor fünf Tagen noch ein "einziger Zirkus aus Touristen und Wochenendgästen". Jetzt wirkt der Kibbuz und dessen Hotel wie eine Fata Morgana. Die Menschen sitzen entweder in den stickigen Bunkern oder zu Hause vor den Fernsehern.

Virginia Lanziger, die vor vierzig Jahren aus London nach Israel eingewandert ist und als Übersetzerin arbeitet, beantwortet am laufenden Band Telefonanrufe. Ihr Sohn Tomer hat schon mehrmals angerufen und sie und seinen Vater Mike gebeten, sie möchten doch bitte nach Tel Aviv kommen.

Urlaub vom Krieg

"Hier seid ihr sicher", hat der Sohn die Eltern zu überreden versucht. Sie könnten doch an den Strand gehen und "Urlaub vom Krieg machen". Doch Virginia Lanziger sagt, in einem Anflug von Sarkasmus: "In Tel Aviv könnten wir gar nicht ins Meer gehen, da ist im Moment eine Quallenplage."

Ihr Mann Mike arbeitet im Fitnesscenter des Kibbuzhotels. Den Swimmingpool habe er zwar bereits geschlossen, weil keine Gäste mehr da seien, dennoch müsse er das Sportstudio jeden Tag beaufsichtigen. "Ein, zwei Leute aus dem Kibbuz kommen auf jeden Fall jeden Tag, und alleine in Tel Aviv am Strand sitzen und Angst um Mike haben, das möchte ich auch nicht", sagt Virginia Lanziger.

Während sie am Kaffee nippt und zum Fernseher schielt, der ohne Ton läuft, hört man das Knattern von Hubschraubern und entfernte Explosionen. Erst am Morgen ist eine Katjuscha-Rakete im Nachbar-Kibbuz detoniert. "Das ist ein Knall, als wenn jemand eine Tür laut zuschlägt", sagt sie. In all den vergangenen Jahren seien "immer wieder Katjuscha-Raketen auf uns niedergeprasselt", aber diesmal sei es anders: "Es hat schon etwas Bedrohliches, wenn die Raketen plötzlich bis nach Haifa reichen."

Soweit möglich, gehen die Lanzigers ihrem Alltag nach. Virginia hat am Morgen noch die Blumen im Garten gegossen. Als nebenan die Rakete einschlug, ist sie schnell in den Bunker gerannt. Sie erzählt von ihrem "verrückten Alltag", während aus dem Radio klassische Musik erklingt. Im Fernsehen wird soeben eine Zahl eingeblendet.

In den letzten fünf Tagen sind demnach mehr als 1200 Raketen auf den Norden Israels abgefeuert worden, auch iranischer Provenienz, so viele wie noch nie in einem vergleichbaren Zeitraum. Mehr als 28 Israelis sind bislang getötet worden.

Keine Sicherheit, nirgends

Von den Geschossen besonders heimgesucht ist die von deutschen Juden gegründete Küstenstadt Naharija. Sie liegt nur zehn Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. Es ist eine Geisterstadt.

Fast alle Geschäfte haben geschlossen, die Menschen sitzen entweder in ihren Wohnungen, in Bunkern oder sind überstürzt abgereist. Im Radio wird von einer Großmutter und ihrem Enkelsohn berichtet, die aus Naharija geflohen waren, um im Kibbuz Meron Sicherheit vor den Raketen zu finden - und dort von einer Rakete getötet wurden.

Tamar Kimmel und ihr Ehemann Israel gehören zu jenen Bewohnern Naharijas, die geblieben sind. "Ich kann nicht genau sagen warum, aber irgend etwas lässt mich hier", sagt sie.

Am Freitag hatten sie und ihr Mann einen Termin mit einem Architekten für die Wohnungsrenovierung. Auf dem Weg zum Treffpunkt schlug eine Katjuscha-Rakete "hundert Meter neben uns ein", sagt die 54 Jahre alte Tamar Kimmel, Mutter zweier erwachsener Töchter. "Wir haben den Termin dann abgesagt. Aber wegziehen wollen wir vorerst nicht aus Naharija."

Sie steht am Eingang zu einem öffentlichen Bunker und versucht zu erklären, was sie in Naharija hält, obwohl die beiden ein Haus in Cesaria besitzen, 100 Kilometer weiter südlich am Strand. Während sie nach einer Antwort sucht, kommt ihr Mann Israel auf sie zugelaufen und sagt: "Komm, wir gehen uns die ausgestorbene Stadt anschauen." Er hat nur noch ein Bein. Das andere hat er im Libanonkrieg 1982 verloren.

© SZ vom 17.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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