Wenn es noch letzte Zweifel daran gegeben hätte, dass die Fronten eines künftigen Bürgerkriegs im Irak vor allem entlang religiöser Grenzen verlaufen - seit Mittwoch wären sie ausgeräumt: Der Anschlag auf die Al-Askari-Moschee in Samarra zielte - und traf - mitten ins Herz der schiitischen Gläubigen.
Ein Jahrhundert lang hatte die goldene Kuppel - 20 Meter im Durchmesser, 68 Meter hoch, verkleidet mit 72.000 goldenen Platten - weithin sichtbar über der Stadt geleuchtet.
Nun aber ragen Stahlgerüste aus den Trümmern, flankiert von den beiden lädierten Minaretten. Das mehr als tausend Jahre alte Heiligtum, das im Laufe der Generationen immer wieder restauriert und ergänzt wurde, zuletzt 1905 um die goldene Kuppel, ist eine Ruine.
Eines der wichtigsten schiitischen Heiligtümer neben Kerbala, Nadschaf und Kadhimija in Bagdad ist zerstört.
Bereits der Bau des Schreins verdankt sich den frühen Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Zwei der zwölf von den Schiiten verehrten Imame liegen hier begraben: Ali al-Hadi, der zehnte Imam, und Hassan al-Askari, sein Nachfolger, der elfte Imam.
Die sunnitischen Abbassiden-Kalifen, die vorübergehend ihre Hauptstadt nach Samarra verlegt hatten und die wachsende Macht der Schiiten fürchteten, verbannten al-Hadi aus Medina nach Samarra, observierten und, so die Sage, vergifteten ihn ebenso wie später seinen Sohn.
Der Askari-Schrein, erbaut von den schiitischen Dynastien der Hamdaniden und Bujiden, erhebt sich über den Fundamenten ihres Hauses - und über ihren Gräbern.
Mehr noch: Muhammed al-Mahdi, der zwölfte Imam, war noch ein Kind, als er die Nachfolge antrat, versteckte sich, so die Sage, in einem Keller, kommunizierte 70 Jahre lang einzig über Gewährsleute mit seinen Anhängern und entschwand schließlich im Jahr 878 in einen gleichsam immateriellen Zustand, nicht Leben, nicht Tod, aus dem der "verborgene Imam" so die tiefe Überzeugung der Schiiten, am Tag der Apokalypse zurückkehren wird.
Der Keller aber, der "Serdab", in dem er sich vor den sunnitischen Verfolgern verbarg, liegt unter dem zweiten Schrein der Al-Askari-Moschee.
Gläubige steigen Treppen hinab, um die 800 Jahre alte Inschrift des Kalifen Nasser al-Din Allah zu lesen. Keine goldene, sondern eine blaue Kuppel aus Tausenden Fayence-Kacheln wölbte sich über dem Schrein - und sie tut es bis heute. Das Heiligtum des Mahdi, des Messias, hat den Anschlag vergleichsweise heil überstanden.
Eine der größten archäologischen Gebiete der Welt
Es ist nicht das erste Mal, dass Samarras kulturelle Stätten im Irak-Krieg beschädigt wurden. Die Stadt im Norden Bagdads ist eines der größten archäologischen Gebiete der Welt.
Am Ostufer des Tigris erstrecken sich über fast 35 Kilometer die Ruinen der vorgeschichtlichen Stadt zu denen einstmals prachtvolle Paläste gehörten, wie jener des Kalifen Al-Mu"tasim aus dem Jahr 836, der Balkuwara-Palast aus dem Jahr 854, den Al-Mutawakkil für seinen Lieblingssohn hatte bauen lassen und der 1911 von dem deutschen Archäologen Ernst Herzfeld entdeckt wurde, ebenso wie der Al-Ashiq-Palast des letzten Kalifen Samarras.
Das spektakuläre Wahrzeichen Samarras aber ist die Große Moschee, das gigantischste muslimische Heiligtum seiner Zeit. 852 aus Lehm und Ziegeln als präzises Rechteck erbaut, bot es Platz für 8000 Gläubige.
Bis heute wird die Anlage überragt von dem außerhalb liegenden spiralförmigen "Malwija"-Minarett, dessen Treppen sich in einzigartigem Schwung bis auf eine Höhe von 52 Meter um den Bau winden, bevor sie auf einer Plattform enden und einen Zugang nach innen erlauben, und die sein Erbauer, Kalif Al-Mutawwakil, auf einem weißen Esel emporgeritten sein soll. Immer wieder wurde das Malwija-Minarett mit dem Turm von Babel verwechselt.
Bereits Saddam Hussein errichtete 400 Meter entfernt eine Chemiefabrik. Nach dem Sturz des Despoten wurde Samarra trotz des schiitischen Doppelheiligtums eine durch und durch sunnitische Stadt, geradezu zum Begriff von Gewalt und religiösen Aufständen.
Die einstige Abassiden-Kapitale galt als eine der am schwersten zu befriedenden Städte. Schiitische Pilger, sonst mit großzügiger Toleranz geduldet, wurden auf ihrem Weg durch das sunnitische Dreieck Opfer von Überfällen.
In den Fenstern, so schreibt die New York Times, waren bald die Flaggen von al-Qaida zu sehen. Im Herbst 2004 hissten die Aufständischen als Zeichen des Triumphes ihr schwarzes Banner auf dem Malwija-Minarett.
Im April 2005 wurde die Spitze des Spiralturms bei einer Explosion verwüstet. Und vor wenigen Wochen berichtete der britische Telegraph, dass sich auf dem Malwija-Minarett, das über Hunderte Kilometer sichtbar ist, amerikanische Scharfschützen verschanzt haben.
Samarra galt als eine der kulturell reichsten Städte des Irak. Dieser Ruf steht auf dem Spiel.