Interview mit Egon Bahr:"Polen ist dabei, Europa zu spalten"

Lesezeit: 12 min

Warum kommt die EU nicht voran? SPD-Außenpolitiker Bahr macht hierfür vor allem den britischen Premier Blair und Polens Regierungschef Jaroslaw Kaczynski verantwortlich - und äußert sich auch zu Putin und Afghanistan. Mit Videos.

Thorsten Denkler und Hans-Jürgen Jakobs

sueddeutsche.de: Herr Bahr, ein Erbe der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder sind die Reformen der Agenda 2010. Die neue Linke profiliert sich im Kampf dagegen - und bei seiner Parteitagsrede hat sich der Linkspolitiker Oskar Lafontaine jetzt auch auf die SPD-Legende Willy Brandt berufen. Was sagen Sie als Brandts langjähriger Weggefährte dazu?

(Foto: Foto: Patrick Strattner)

Egon Bahr: Ich kann das verstehen - vor dem Hintergrund, dass eine solche Partei sich eine Art Legitimation verschaffen will, selbst wenn sie damit geistigen Diebstahl begeht. Und es ist ein geistiger Diebstahl. Im Übrigen bin ich nicht besonders beunruhigt über das Entstehen dieser Partei. Ich nehme sie aber ernst und finde es interessant, was dort geschieht. Wollen doch mal sehen, ob da am Ende beim Programm mehr PDS herauskommt oder mehr Lafontaine.

sueddeutsche.de: Lafontaine, Ex-Chef Ihrer SPD, prägt den Slogan: "Freiheit durch Sozialismus". Vom "demokratischen Sozialismus", wie er noch immer im SPD-Programm steht, hat man lange nichts gehört.

Bahr: Ich lasse mir doch von den Kommunisten nicht einen ursozialdemokratischen Begriff wegnehmen! Als in Frankreich einst François Mitterrand mit den Kommunisten eine Regierung gebildet hat, habe ich den Fehler gemacht, dies gegenüber Brandt zu kritisieren. Er hat gesagt: "Warte doch mal ab, was aus denen wird in der Umarmung." Und siehe da, heute sind die französischen Kommunisten verschwunden.

sueddeutsche.de: Ist die Umarmung à la française ein Modell für die SPD in Deutschland?

Bahr: Brandt hat 1990 die Auffassung vertreten, jedes Mitglied der SED, das unser Programm bejaht und das kein Verbrechen begangen hatte, soll erhobenen Hauptes Mitglied der SPD werden können. Wäre das die Regel gewesen, dann würde es die PDS in ihrer heutigen Stärke nicht geben. Aber das ist nicht akzeptiert worden. Im Wesentlichen von denen, die damals in der DDR zunächst die SDP gegründet haben.

sueddeutsche.de: Eine Mehrheit links von der Mitte, wie sie Brandt einmal vorgerechnet hat, gibt es auch heute in Deutschland. Muss da die SPD im Bund über eine Zusammenarbeit mit der Linken nachdenken?

Bahr: Theoretisch gibt es diese Mehrheit links der Mitte. Aber ich sage in aller Klarheit: Auf Länderebene kann es Koalitionen mit der Linken geben - auf Bundesebene kann ich mir das nicht vorstellen.

sueddeutsche.de: Wie groß ist dabei der Lästigkeitsfaktor Lafontaine?

Bahr: Für mich persönlich sehr groß.

sueddeutsche.de: Warum für Sie persönlich?

Bahr: Weil ich es schwer verzeihlich finde, dass jemand ein Mandat - als Parteivorsitzender gewählt durch den Parteitag - einfach wegwirft. Das hat es in der Geschichte der Partei noch nicht gegeben.

sueddeutsche.de: Wie war Ihr Verhältnis zu Lafontaine vor diesem Bruch?

Bahr: Sehr gut. Persönlich sehr gut.

sueddeutsche.de: Sie und viele ihre Parteifreunde haben seitdem kein Wort mehr mit ihm gesprochen.

Bahr: Worüber soll ich denn reden? Worüber will er reden?

sueddeutsche.de: Muss man nicht mit ihm reden - allein schon, um sich die Option auf einen sozialdemokratischen Kanzler zu erhalten?

Bahr: Das ist mir zu weit nach vorne gedacht.

sueddeutsche.de: Noch einmal: Hat es die SPD - bei allen notwendigen Reformen - versäumt, den Begriff vom demokratischen Sozialismus mit neuem Leben zu füllen? Hat sie mit Hartz IV und Agenda 2010 eine Gerechtigkeitslücke hinterlassen?

Bahr: Die Gerechtigkeitsfrage muss sich die CDU genauso stellen lassen. Kurt Beck hat vor kurzer Zeit in der Frankfurter Allgemeinen einen Grundsatzaufsatz gegen diese Seuche des Neoliberalismus veröffentlicht. Die CDU hat entsprechend gezeichnet darauf reagiert. Das will sie nicht auf sich sitzen lassen. Aber in der Tat: Die Frage der Gerechtigkeit muss großgeschrieben werden. Diesen Punkt darf sich die SPD nicht wegnehmen lassen. Das ist ein Stück Seele der Partei.

sueddeutsche.de: Die Große Koalition scheint im Zustand der Auflösung zu sein. Da braucht die SPD offenbar eine Alternative.

Bahr: Im Wahlkampf 2005 haben alle an Umfragen geglaubt. Danach konnte die Union gar nicht mehr verlieren, und die SPD nicht mehr gewinnen. Das hat dazu geführt, das Angela Merkel geglaubt hat, sie könne ihren neoliberalen Kurs entsprechend dem Leipziger Parteitag hart durchführen - und Schröder meinte, er müsse die gröbsten Ungerechtigkeiten der Agenda 2010 beseitigen. Das Ergebnis kennen wir. Die SPD kam ziemlich nahe ran. Beide wurden zu einer Großen Koalition gezwungen.

sueddeutsche: Was sind die Konsequenzen?

Auch der CDU stellt sich die Gerechtigkeitsfrage, sagt Egon Bahr. (Foto: Foto: Patrick Strattner)

Bahr: Im Ergebnis waren die Mitglieder in beiden Volksparteien unzufrieden. Die CDU rückte zu weit nach links, die SPD zu weit nach rechts. Beide Parteien wissen, dass eine Große Koalition die kleinen Parteien rechts und links von ihnen stärkt. Das war das Ergebnis von Weimar und der Großen Koalition von 1966 bis 1969 gewesen.

sueddeutsche.de: Und jetzt? Naht das Ende?

Bahr: SPD und Union sind bemüht, durch ein neues Programm ihr Profil so zu stärken, dass sie den anderen 2009 nicht mehr brauchen.

sueddeutsche.de: Unions-Fraktionschef Volker Kauder sagt, die Große Koalition werde 2009 beendet.

Bahr: Die Sozialdemokraten wollen das genauso wenig fortsetzen. Aber das kann Kauder nicht beschließen. Der kann nur hoffen. Meine tiefe Überzeugung ist, dass die Stabilität der Bundesrepublik davon abhängt, dass die großen Parteien jeweils mit einem kleineren Partner abwechselnd in der Verantwortung stehen. Dann sollen sie zeigen, was sie können. Wenn das gut ist, dann werden sie wiedergewählt - wenn nicht, kommt die andere Volkspartei.

sueddeutsche.de: Herr Bahr, Sie haben 2003 gesagt, Amerika führe Krieg im Orient - und nicht Europa. Gilt das noch?

Bahr: Für den Irak - ja. Die Amerikaner haben ja von dem Angebot der Nato nach dem 11. September 2001, sich an der Seite Amerikas als im Krieg befindlich zu fühlen, keinen Gebrauch gemacht. Sie haben gesagt, das ist nett, aber wir ziehen es vor, uns für die jeweilige Mission die Willigen auszusuchen. Das war die erste Spaltung des Bundes mit Europa. Die zweite kam, als die Amerikaner zwischen alten und neuen Europäern unterschieden. Ich zähle mich im Übrigen zu den alten Europäern, im wahrsten Sinne des Wortes.

sueddeutsche.de: In Afghanistan aber kämpfen Deutsche mit Amerikanern - dort drohen ähnliche katastrophale Entwicklungen wie im Irak. Dann wären nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Deutschen mitten im Krieg.

Bahr: Im Irak haben die Amerikaner ohne die Vereinten Nationen einen Krieg begonnen. Heute sind sie in der bekannten Situation, nicht zu wissen, wie man da rauskommt. Afghanistan hingegen war ein Mandat der UN, an dem wir uns beteiligt haben. Dabei wurde zwischen Friedenssicherung im Norden unterschieden und der Nichtbeteiligung im Süden und im Osten. Diese Unterscheidung ist inzwischen kaum noch möglich. Die Amerikaner sagen: Wir führen in Afghanistan Krieg. Darum liegt der Oberbefehl auch bei ihnen.

sueddeutsche.de: Was heißt das für Deutschland?

Bahr: Wir sind natürlich eine kriegführende Macht geworden, in den Augen der Afghanen. Wenn man sich im Krieg befindet, kann man auch nichts dagegen haben, wenn Tornados angefordert werden, oder ein Battallion, um es im Süden einzusetzen.

sueddeutsche.de: Eine gefährliche Entwicklung.

Bahr: Es kann nicht erstaunen, wenn die Taliban zunehmend Selbstmordattentäter auch in den Norden schicken. Das muss zu einer Diskussion darüber führen, ob die Ziele, die wir uns in Afghanistan gesetzt haben, noch realisierbar sind.

sueddeutsche.de: Soll der Westen aufgeben, Afghanistan zu demokratisieren?

Bahr: Während des Kalten Krieges hatte ich einen "Back Channel", eine inoffizielle Leitung nach Moskau. Mein Kanalkamerad kam eines Tages, schön braungebrannt, in Bonn an und sagte, er sei in Afghanistan gewesen. Er habe einen eigenen Eindruck gewinnen wollen - und fand, die Afghanen seien für keine Form des Sozialismus reif. Er könne mir garantieren, dass es keine zwei Jahre dauern würde, bis die Sowjetarmee aus dem Land abziehe. Es sei unmöglich, dieses Land zu kontrollieren. Damals hatte die Sowjetunion gerade fünf Jahre Afghanistan besetzt.

sueddeutsche.de: Und, was folgt daraus?

Bahr: Wir sind jetzt fünf Jahre in Afghanistan. Auch wenn die amerikanische Militärtechnik ungleich besser ist als die russische damals - die Lage ist im Prinzip gleich. Könnte es also sein, dass die Afghanen nicht nur keine Form des Sozialismus, sondern auch für keine Form der Demokratie geeignet sind? Könnte es sein, dass wir unsere Ziele gar nicht erfüllen können?

sueddeutsche.de: Was glauben Sie?

Bahr: Wir reden schon jetzt nicht mehr von Demokratie - sondern vom Aufbau eines sicheren, sich selbst tragenden Staates. Dieses Ziel könnte aber genauso irreal sein wie das erste. Nach wie vor haben die Warlords die Kontrolle über das Land. Und ich habe nicht den Eindruck, dass Afghanistan in überschaubarer Zeit vom Mohnanbau unabhängig werden könnte.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das für die anstehende Verlängerung der Afghanistan-Mandate im Oktober?

Bahr: Wenn dort wieder für nur ein Jahr verlängert wird, empfände ich das als lächerlich und völlig irreal. Ich bitte Sie, bei aller Vorsicht: Ich könnte mir vorstellen, das Ziel zu erreichen, wenn man dort über 20 Jahre lang 500.000 Nato-Soldaten stationiert. Es gibt aber keine Parlamente, die dem zustimmen.

sueddeutsche.de: Also besser die Notbremse ziehen - und raus aus Afghanistan?

Bahr: Ich würde mir wünschen, dass man sich über die Lagebeurteilung klar wird. Ich möchte eine realistische Analyse. Dann muss man entsprechende Entscheidungen fällen. Vor solch einer Analyse im Bündnis sollte es keinen deutschen Alleingang geben - danach aber können wir alleine entscheiden.

sueddeutsche.de: Müssen wir nicht allein schon deshalb vor Ort bleiben, um ein Wiedererstarken von al-Qaida zu verhindern? Der SPD-Politiker Struck hat ja gesagt: "Die Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt."

Bahr: Das Zitat kann nicht aus dem zeitlichen Zusammenhang gerissen werden. Jetzt geht es um die Verantwortung für das eigene Land und für die Menschen. Und man kann nicht trennen zwischen Irak und Afghanistan - das werden zunehmend kommunizierende Röhren. Ich kann doch keine Position einnehmen, die ignoriert, wenn eine Sache mit den vorhandenen Kräften nicht machbar ist. Das ist doch keine Politik. Ich muss doch sagen können: "Es tut mir schrecklich leid - zum Unmöglichen ist niemand verpflichtet." Ultra posse nemo obligatur, haben schon die Römer formuliert.

sueddeutsche.de: Also doch: Raus aus Afghanistan.

Bahr: Ich sehe im Augenblick kein Zeichen, dass irgendwo der Silberstreif am Horizont erscheint.

sueddeutsche.de: Ist die "Leuchtturm-Politik" der Amerikaner, die ein fremdes Land - wenn nötig mit Waffengewalt - demokratisieren wollten und mit Reformen eine gesamte Region beeinflussen wollten, endgültig gescheitert?

Bahr: Professor Amitai Etzioni von der George-Washington-Universität ist zu der Auffassung gekommen, dass die westliche Politik einen Richtungswechsel vornehmen muss. Nicht das ideologische Ziel von Demokratie sei entscheidend, sondern dass alle Staaten in gleicher Sicherheit leben. Das gilt auch für Russland, den Irak, Iran, Afghanistan und auch für China.

sueddeutsche.de: Und das ist auch Ihre Maxime?

Bahr: Völlig! Entschuldigung, das ist doch die Grundlage dessen, was wir aus der Entspannungspolitik gelernt haben. Wir haben doch nicht die Bolschewiki geliebt, als wir den Moskauer Vertrag gemacht und die Schlussakte von Helsinki geschlossen haben. Auch da galt immer: Sicherheit zuerst. Sicherheit vor Russland - und nicht Demokratie in Russland.

sueddeutsche.de: Ihr Satz vom "Wandel durch Annäherung" gilt also bis heute?

Bahr: Eingeschränkt selbstverständlich.

sueddeutsche.de: Herr Bahr, die Unterhändler der 27 EU-Staaten haben monatelang verzweifelt um den Text für einen EU-Vertrag gerungen, der das Wort "Verfassung" tunlichst meidet. Auch eine gemeinsame Hymne oder Flagge kommen nicht vor. Bleibt Europa als politische Macht eine Fiktion?

Bahr: Die einzig wirklich interessierende Frage für Europa ist, ob es an seinen Beschlüssen und Zielen festhält, wie das in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam beschlossen worden ist. Das Ziel Europas ist, mit einer Stimme zu sprechen. Und das bedeutet: ein fünfter Pol zwischen den schon bestehenden vier Polen Amerika, Russland, China und Indien zu werden.

sueddeutsche.de: Ist Europa auf diesem Weg?

Bahr: 1970 habe ich im Kreml mit Außenminister Andrej Gromyko über den späteren Moskauer Vertrag verhandelt. Nach dem Essen fragte er mich: "Wann muss man damit rechnen, dass Europa mit einer Stimme spricht?" Ich sagte: "Wiedervorlage in 20 Jahren." Meinem Bundeskanzler habe ich nach der Rückkehr nach Bonn davon berichtet, woraufhin er sagte: "Du bist ein Defätist!" Auch Willy Brandt konnte sich damals nicht vorstellen, dass das noch 20 Jahre dauert. Heute stelle ich fest: Es sind seitdem 37 Jahre vergangen - und wir können immer noch kein Datum seriös nennen, an dem Europa mit einer Stimme spricht.

sueddeutsche.de: Wiedervorlage also in zehn Jahren? Noch können sich die EU-Mitglieder ja nicht einmal auf einen gemeinsamen Außenminister einigen.

Bahr: Ich hoffe sehr, dass es innerhalb des nächsten Jahrzehnts zu einem Erfolg kommt. Im Augenblick bin ich mir da nicht sicher. Im Augenblick reden wir doch darüber, dass nach dem Scheitern der EU-Verfassung Europa erst einmal Grenzen bekommt und die Ausweitung nicht ad infinitum fortgesetzt wird. Der britische Premier Blair hat es mit beachtlichem Geschick geschafft, so zu tun, als gebe es das Ziel der politischen Einheit nicht mehr - sondern nur noch das Bestreben, die Wirtschaftsgemeinschaft zu erweitern und dafür zu sorgen, dass es den Menschen möglichst gut geht. Ein Vertrag muss jetzt ein Mindestmaß von Handlungsfähigkeit unter den 27 Mitgliedsstaaten regeln.

sueddeutsche.de: Leichter gesagt als getan - wie das Gezerre um das künftige Abstimmungsprozedere in der EU beweist.

Bahr: Solange es die Regel gibt, dass Einstimmigkeit entscheidet, entscheidet einer gegen alle. Solange kann jeder Europa bremsen. Dann wird Europa von einem möglichen Subjekt zu einem Objekt.

sueddeutsche.de: Als Bremser hat sich zuletzt immer wieder Polen erwiesen - die mit einer "Quadratwurzel"-Formel die deutsche Stimmenmacht in der EU reduzieren wollten.

Bahr: Zunächst einmal verstehe ich die Polen. Sie haben nur dank ihres Stolzes und ihrer Egozentrik geschichtlich zwischen den für sie bedrohlichen Nachbarn Russland und Deutschland überlebt. Auf der anderen Seite aber verstehe ich sie überhaupt nicht: Denn Deutschland ist keine Gefahr. Deutschland ist eingebunden in die Nato. Es stimmt, was der ehemalige US-Außenminister James Baker geschrieben hat: Deutschland liegt an der Leine. Die Nato ist ausgeweitet bis zur Oder-Neiße-Linie - das ist ein Sicherheitsinstrument für Deutschland und - für unsere Nachbarn - auch vor Deutschland.

sueddeutsche.de: Den Normalisierungsvertrag von 1970 zwischen Deutschland und Polen haben Sie maßgeblich entworfen. Wie erklären Sie die gegenwärtigen Ressentiments? Warum sagt der Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, das Verhältnis werde erst dann normal sein, wenn Polen so reich ist wie Deutschland?

Bahr: Ich wäre dankbar, wenn Sie diese Frage an Herrn Kaczynski richten. Die Frage des Reichtums eines Landes ist doch kein Kriterium für seine Mitgliedschaft in der EU oder in der Nato! Polen ist dabei, eine Spaltung Europas herbeizuführen - und im Übrigen eine Spaltung der Nato.

sueddeutsche.de: Wie fällt Ihre außenpolitische Bilanz der Bundeskanzlerin Angela Merkel aus? Erkennbar hat sie, im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder, mehr auf den amerikanischen Präsidenten George W. Bush und weniger auf Russlands Wladimir Putin gesetzt.

Bahr: Ich kann an der Haltung der Bundeskanzlerin keinen schwerwiegenden Fehler entdecken. Es musste ihr Interesse sein, das persönliche Nicht-Verhältnis zwischen Schröder und Bush zu beseitigen und zu normalen Gesprächen zu kommen. Das hat sie auch geschafft. Ihr Verhältnis zu Putin ist natürlich nicht so kumpelhaft, wie man das bei Schröder gesehen hat, aber durchaus mehr als distanziert und kühl.

sueddeutsche.de: Schröder hält Putin ja sogar für einen "lupenreinen Demokraten".

Bahr: Das Zitat ist aus dem Zusammenhang gerissen. Wissen Sie, so etwas kann Putin auch gar nicht werden. Es ist auch nicht entscheidend, ob Russland eine Demokratie ist. Das hat Boris Jelzin in den neunziger Jahren zwar dekretiert, aber das Land hat hierfür keine Tradition. Es hatte die Zaren, und dann die roten Zaren. Vater Bush, den ich sehr schätze, hat am Ende des Ost-West-Konflikts gesagt, Moskau müsse sich nach seiner eigenen Tradition entwickeln. Demokratie gehört nicht dazu. Für mich ist wichtig, dass Russland ein berechenbarer Rechtsstaat ist, der zum Beispiel Korruption bekämpft.

sueddeutsche.de: Zum Rechtsstaat gehört ja wohl auch die Pressefreiheit, die in Russland inzwischen nur in Spurenelementen zu finden ist.

Bahr: Zunächst einmal gibt es ganz vorzügliche wirtschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, alles erste Klasse. Politisch haben fünf Kanzler - Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Schröder und Merkel - Beziehungen zu Russland gepflegt. Das ist ein großes Kapital - und das verpflichtet. Die dritte Ebene schließlich ist erstaunlich: Die veröffentlichte Meinung in Deutschland ist kritisch bis ablehnend gegenüber Russland. Genau erklären kann ich mir das nicht.

sueddeutsche.de: Nach der Nazi-Diktatur sind die Deutschen in Sachen Pressefreiheit eben sehr sensibel.

Bahr: Sicher, die Frage ist ein Problem, bei dem die Deutschen immer wachsam sein sollten - obwohl wir beim Thema Moskau nicht objektiv sind. Es gibt zum Beispiel weder in China noch in Saudi-Arabien Pressefreiheit. Das Problem ist, dass wir Russland mit den von Jelzin geschaffenen falschen Erwartungen messen - wonach das Land eine Demokratie nach unseren Kriterien sein sollte. Verstehen Sie: Ich bin dafür, dass man sich für Pressefreiheit einsetzt - aber wir haben nicht zu entscheiden, was Putin für richtig hält, um seinen Laden zusammenzuhalten.

sueddeutsche.de: Bei einem so engen Partner wie Russland interessiert das schon.

Bahr: Diese Russen haben doch wirklich geglaubt, sie hätten den Zweiten Weltkrieg gewonnen - und konnten nicht verstehen, dass es ihnen schlechter ging als allen anderen, die Deutschen eingeschlossen. Putin musste den Russen den nationalen Stolz wiedergeben - und das hat er geschafft. Wirtschaftlich hat sich das Land erholt und zum Beispiel seine gesamten Auslandsschulden zurückbezahlt, auch an Deutschland.

sueddeutsche.de: Kunststück - bei den russischen Energievorkommen.

Bahr: Sicher ist dies auch den gestiegenen Energie- und Gaspreisen zu verdanken gewesen. Wahrscheinlich wird das mit den Preissteigerungen auch erst einmal so weitergehen.

sueddeutsche.de: Wovon die russischen Staatskapitalisten profitieren, die sich im Ausland ausbreiten. Einer davon ist der Riese Gazprom. Sollte Deutschland solche Investoren ins Land lassen?

Bahr: Das sollte immer auf Gegenseitigkeit beruhen. Die Russen sollen bei uns nicht mehr Möglichkeiten haben, als wir bei ihnen - und zwar kontrollierbar und durchsichtig. Dazu gehört eine Vereinbarung über sichere Versorgung. In dem Maße, in dem wir abhängig bleiben, begibt sich Russland auch in eine immer größere Abhängigkeit. Bismarcks Bankier Gerson von Bleichröder hat einmal gesagt: "Wenn ich Ihnen 100.000 Mark pumpe, dann habe ich Sie in der Tasche. Wenn ich Ihnen 10 Millionen pumpe, haben Sie mich in der Tasche."

Egon Bahr, 85, ist im Berliner Willy-Brandt-Haus eine Autorität. Dort, im Hauptquartier der SPD, hat er im 4. Stock sein Büro. Spitzengenossen wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier suchen den Rat des einstigen Botschafters, Staatssekretärs, Ministers und Parteigeschäftsführers, der vor fast 40 Jahren die deutsche Ostpolitik begründet hat. Er fühle sich gut ausgelastet, kommentiert Bahr, der an der Seite des einstigen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt Karriere gemacht hat. Seine Memoiren ("Zu meiner Zeit") legte der langjährige Journalist 1996 vor.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: