sueddeutsche: Was sind die Konsequenzen?
Auch der CDU stellt sich die Gerechtigkeitsfrage, sagt Egon Bahr.
(Foto: Foto: Patrick Strattner)Bahr: Im Ergebnis waren die Mitglieder in beiden Volksparteien unzufrieden. Die CDU rückte zu weit nach links, die SPD zu weit nach rechts. Beide Parteien wissen, dass eine Große Koalition die kleinen Parteien rechts und links von ihnen stärkt. Das war das Ergebnis von Weimar und der Großen Koalition von 1966 bis 1969 gewesen.
sueddeutsche.de: Und jetzt? Naht das Ende?
Bahr: SPD und Union sind bemüht, durch ein neues Programm ihr Profil so zu stärken, dass sie den anderen 2009 nicht mehr brauchen.
sueddeutsche.de: Unions-Fraktionschef Volker Kauder sagt, die Große Koalition werde 2009 beendet.
Bahr: Die Sozialdemokraten wollen das genauso wenig fortsetzen. Aber das kann Kauder nicht beschließen. Der kann nur hoffen. Meine tiefe Überzeugung ist, dass die Stabilität der Bundesrepublik davon abhängt, dass die großen Parteien jeweils mit einem kleineren Partner abwechselnd in der Verantwortung stehen. Dann sollen sie zeigen, was sie können. Wenn das gut ist, dann werden sie wiedergewählt - wenn nicht, kommt die andere Volkspartei.
sueddeutsche.de: Herr Bahr, Sie haben 2003 gesagt, Amerika führe Krieg im Orient - und nicht Europa. Gilt das noch?
Bahr: Für den Irak - ja. Die Amerikaner haben ja von dem Angebot der Nato nach dem 11. September 2001, sich an der Seite Amerikas als im Krieg befindlich zu fühlen, keinen Gebrauch gemacht. Sie haben gesagt, das ist nett, aber wir ziehen es vor, uns für die jeweilige Mission die Willigen auszusuchen. Das war die erste Spaltung des Bundes mit Europa. Die zweite kam, als die Amerikaner zwischen alten und neuen Europäern unterschieden. Ich zähle mich im Übrigen zu den alten Europäern, im wahrsten Sinne des Wortes.
sueddeutsche.de: In Afghanistan aber kämpfen Deutsche mit Amerikanern - dort drohen ähnliche katastrophale Entwicklungen wie im Irak. Dann wären nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Deutschen mitten im Krieg.
Bahr: Im Irak haben die Amerikaner ohne die Vereinten Nationen einen Krieg begonnen. Heute sind sie in der bekannten Situation, nicht zu wissen, wie man da rauskommt. Afghanistan hingegen war ein Mandat der UN, an dem wir uns beteiligt haben. Dabei wurde zwischen Friedenssicherung im Norden unterschieden und der Nichtbeteiligung im Süden und im Osten. Diese Unterscheidung ist inzwischen kaum noch möglich. Die Amerikaner sagen: Wir führen in Afghanistan Krieg. Darum liegt der Oberbefehl auch bei ihnen.
sueddeutsche.de: Was heißt das für Deutschland?
Bahr: Wir sind natürlich eine kriegführende Macht geworden, in den Augen der Afghanen. Wenn man sich im Krieg befindet, kann man auch nichts dagegen haben, wenn Tornados angefordert werden, oder ein Battallion, um es im Süden einzusetzen.
sueddeutsche.de: Eine gefährliche Entwicklung.
Bahr: Es kann nicht erstaunen, wenn die Taliban zunehmend Selbstmordattentäter auch in den Norden schicken. Das muss zu einer Diskussion darüber führen, ob die Ziele, die wir uns in Afghanistan gesetzt haben, noch realisierbar sind.
sueddeutsche.de: Soll der Westen aufgeben, Afghanistan zu demokratisieren?
Bahr: Während des Kalten Krieges hatte ich einen "Back Channel", eine inoffizielle Leitung nach Moskau. Mein Kanalkamerad kam eines Tages, schön braungebrannt, in Bonn an und sagte, er sei in Afghanistan gewesen. Er habe einen eigenen Eindruck gewinnen wollen - und fand, die Afghanen seien für keine Form des Sozialismus reif. Er könne mir garantieren, dass es keine zwei Jahre dauern würde, bis die Sowjetarmee aus dem Land abziehe. Es sei unmöglich, dieses Land zu kontrollieren. Damals hatte die Sowjetunion gerade fünf Jahre Afghanistan besetzt.
sueddeutsche.de: Und, was folgt daraus?
Bahr: Wir sind jetzt fünf Jahre in Afghanistan. Auch wenn die amerikanische Militärtechnik ungleich besser ist als die russische damals - die Lage ist im Prinzip gleich. Könnte es also sein, dass die Afghanen nicht nur keine Form des Sozialismus, sondern auch für keine Form der Demokratie geeignet sind? Könnte es sein, dass wir unsere Ziele gar nicht erfüllen können?
sueddeutsche.de: Was glauben Sie?
Bahr: Wir reden schon jetzt nicht mehr von Demokratie - sondern vom Aufbau eines sicheren, sich selbst tragenden Staates. Dieses Ziel könnte aber genauso irreal sein wie das erste. Nach wie vor haben die Warlords die Kontrolle über das Land. Und ich habe nicht den Eindruck, dass Afghanistan in überschaubarer Zeit vom Mohnanbau unabhängig werden könnte.
sueddeutsche.de: Was bedeutet das für die anstehende Verlängerung der Afghanistan-Mandate im Oktober?
Bahr: Wenn dort wieder für nur ein Jahr verlängert wird, empfände ich das als lächerlich und völlig irreal. Ich bitte Sie, bei aller Vorsicht: Ich könnte mir vorstellen, das Ziel zu erreichen, wenn man dort über 20 Jahre lang 500.000 Nato-Soldaten stationiert. Es gibt aber keine Parlamente, die dem zustimmen.
sueddeutsche.de: Also besser die Notbremse ziehen - und raus aus Afghanistan?
Bahr: Ich würde mir wünschen, dass man sich über die Lagebeurteilung klar wird. Ich möchte eine realistische Analyse. Dann muss man entsprechende Entscheidungen fällen. Vor solch einer Analyse im Bündnis sollte es keinen deutschen Alleingang geben - danach aber können wir alleine entscheiden.
sueddeutsche.de: Müssen wir nicht allein schon deshalb vor Ort bleiben, um ein Wiedererstarken von al-Qaida zu verhindern? Der SPD-Politiker Struck hat ja gesagt: "Die Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt."
Bahr: Das Zitat kann nicht aus dem zeitlichen Zusammenhang gerissen werden. Jetzt geht es um die Verantwortung für das eigene Land und für die Menschen. Und man kann nicht trennen zwischen Irak und Afghanistan - das werden zunehmend kommunizierende Röhren. Ich kann doch keine Position einnehmen, die ignoriert, wenn eine Sache mit den vorhandenen Kräften nicht machbar ist. Das ist doch keine Politik. Ich muss doch sagen können: "Es tut mir schrecklich leid - zum Unmöglichen ist niemand verpflichtet." Ultra posse nemo obligatur, haben schon die Römer formuliert.
sueddeutsche.de: Also doch: Raus aus Afghanistan.
Bahr: Ich sehe im Augenblick kein Zeichen, dass irgendwo der Silberstreif am Horizont erscheint.
sueddeutsche.de: Ist die "Leuchtturm-Politik" der Amerikaner, die ein fremdes Land - wenn nötig mit Waffengewalt - demokratisieren wollten und mit Reformen eine gesamte Region beeinflussen wollten, endgültig gescheitert?
Bahr: Professor Amitai Etzioni von der George-Washington-Universität ist zu der Auffassung gekommen, dass die westliche Politik einen Richtungswechsel vornehmen muss. Nicht das ideologische Ziel von Demokratie sei entscheidend, sondern dass alle Staaten in gleicher Sicherheit leben. Das gilt auch für Russland, den Irak, Iran, Afghanistan und auch für China.
sueddeutsche.de: Und das ist auch Ihre Maxime?
Bahr: Völlig! Entschuldigung, das ist doch die Grundlage dessen, was wir aus der Entspannungspolitik gelernt haben. Wir haben doch nicht die Bolschewiki geliebt, als wir den Moskauer Vertrag gemacht und die Schlussakte von Helsinki geschlossen haben. Auch da galt immer: Sicherheit zuerst. Sicherheit vor Russland - und nicht Demokratie in Russland.
sueddeutsche.de: Ihr Satz vom "Wandel durch Annäherung" gilt also bis heute?
Bahr: Eingeschränkt selbstverständlich.