Interview mit dem künftigen Ratspräsidenten der EU:"300 Sprachen und 500 Dialekte - das ist mein Europa"

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Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel über europäische Identität, den Gerichtshof und die Grenzen der Erweiterung.

Interview: Michael Frank und Stefan Kornelius

Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel wird am 1. Januar für sechs Monate Ratspräsident der Europäischen Union. Im kommenden halben Jahr geht es vor allem darum, eine neue Debatte über die EU-Verfassung und die innere Reform der Union anzustoßen.

"Die Identität Europas liegt in seiner Vielfalt": der zukünftige Ratspräsident der Europäischen Union, Wolfgang Schüssel. (Foto: Foto: Reuters)

SZ: Herr Bundeskanzler, Sie wollen Ende Januar den "Sound of Europe" vorstellen - pünktlich zum Mozart-Jahr auf einer großen Konferenz in Salzburg. Wie klingt Europa denn?

Schüssel: Das ist ein vielfältiger Klang, der nicht nur von Harmonie, sondern auch von Dissonanzen lebt, aber er muss zusammenpassen. Es gibt einen Dirigenten, ein wohlmeinendes und professionelles Orchester. Das Stück muss vorher definiert sein, um hörbar zu machen, dass Europa mehr ist als die Summe der einzelnen nationalen Klänge; um sichtbar zu machen, dass Europa mehr ist als ein Einheitsbrei, der von oben verordnet wird. Europa ist eine faszinierende Erfolgsgeschichte seit der Antike - das sollte spürbar werden.

SZ: Ist nicht Verschiedenheit ein wesentlicher Teil der Identität Europas?

Schüssel: Die Identität Europas liegt in seiner Vielfalt. Das sind Klänge, nicht ein Klang. Und es kann genauso auch Pausen geben. Entscheidend ist, dass nicht alles chaotisch durcheinander oder gegeneinander geht, und dass Verständnis dafür da ist, professionell zusammenzuspielen.

SZ: Die Identitätsverwirrung im Jahr 2005 hat zur Ablehnung der Verfassung in zwei Staaten geführt. Wie können die Bürger Europa verstehen lernen?

Schüssel: Bilder sind sehr wichtig. Poetisch gesagt: Ich glaube, dass wir Europa versinnbildlichen müssen. Wir machen ja nicht zufällig diese erste Konferenz am 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart, der eine europäische Persönlichkeit ist, die niemand für sich vereinnahmen kann, auch wir Österreicher nicht. Er hat in Italien, Deutschland und Prag komponiert. Wir feiern auch den 150. Geburtstag Sigmund Freuds, der Europa noch einen ganz anderen Klang hinzufügt: Selbstreflexion, Aufspüren des Unbewussten, des Über-Ichs - die Identitätsfindung eines Kontinents.

SZ: Puh, das klingt nach schwerer Analyse.

Schüssel: Wir brauchen beides. Wir müssen die kleinen Dinge ansprechen, um verknotete Strukturen zu lösen. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch große Fragen vornehmen: die Identität, die Verfassung. Die Schlüsselbegriffe: Vertrauen und Schwung. Wir müssen aus der Blockade heraus.

SZ: Was hält Europa zusammen?

Schüssel: Der Konsens über Wertvorstellungen. Darin ist Europa konkurrenzlos. Wir sind die Einzigen in der Welt, die mit Niveau wirtschaftliche Leistungskraft, sozialen Zusammenhalt, Umweltbewusstsein im Sinne der Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftens und des Bewahrens, höchste Standards in der Demokratie und der Wahrung der Menschenrechte unter ein Dach gebracht haben. Das ist nicht selbstverständlich.

SZ: Beim Gipfel im Dezember wurde aus tiefer Lethargie heraus ein Erfolg erzielt. Wird Identität nicht am besten durch Erfolg geschaffen?

Schüssel: Hätte es die Einigung nicht gegeben, dann wäre das ein schwerer Rückschlag gewesen. Wie hätten wir überhaupt noch einen Dialog mit den Bürgern und den verschiedenen Institutionen zusammengebracht? Es war ein wichtiger Schritt, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

SZ: Es hat nicht lange gedauert, das Ergebnis zu zerreden.

Schüssel: Viele reden jetzt von einem Mini-Europa. Mit Verlaub: Eine Finanzvorschau für immerhin sieben Jahre, mit einem Wiederaufbauprogramm für Mittel- und Osteuropa im doppelten Ausmaß des Marshall-Plans für ganz Europa - so kleinkariert finde ich das nicht. Europa kostet uns etwas, aber es ist fair, es ist vertretbar, auch wir profitieren. Vor allem schaffen wir etwas, was wir jahrhundertelang ersehnt haben: die Unverrückbarkeit der Grenzen, die Versöhnung der Völker, einen Wirtschaftsraum, in dem es sich leben und arbeiten lässt.

SZ: Zurück zur Identität. Sind es nicht gerade die Grenzen, die den Menschen Zusammenhalt geben?

Schüssel: Die Grenzen Europas sind an sich klar definiert - im Norden, im Westen und im Süden zumindest. In Richtung Osten ist die Grenze offen, vage. Das wird auch so bleiben, das ist eine praktische und eine kulturelle Frage. Das hat mit der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union und der Akzeptanz der Bevölkerung auf unserer Seite zu tun, aber auch mit der Akzeptanz unserer gemeinsamen Werte auf der anderen.

SZ: Besteht nicht ein Bedürfnis nach Abgrenzung, auch nach Osten hin?

Schüssel: Wichtig ist die Frage der Aufnahmefähigkeit. Das ist nicht nur ein praktisches, sondern auch ein zutiefst demokratiepolitisches Argument. Man darf Europa nicht überfordern. Wenn man etwa den Maghreb, das Mittelmeer, die Ukraine, den Kaukasus, etwa noch Russland dazunimmt, dann enden wir bei einer neuen OSZE. Das wäre nicht das Konzept der Gründerväter, dem die überwiegende Mehrheit der Völker anhängt.

SZ: Gilt das auch für die Länder des westlichen oder des Balkans insgesamt?

Schüssel: Dort wird jedes Land nach seinem Fortschritt integriert werden. Diese Perspektive wollen wir Österreicher in der Präsidentschaft offen halten.

Übernimmt im neuen Jahr die Ratspräsidentschaft der EU. (Foto: Foto: Reuters)

SZ: Warum ist die Türkei ein so anderes Kaliber als diese Länder? Von Größe, Leistungskraft und Demografie her erschließt sich der Unterschied. Aber es gibt ebenso große Vorbehalte gegen den Beitritt der Balkan-Staaten.

Schüssel: Auch der Türkei spricht man die Perspektive ja nicht ab, auch wir nicht. Ich bin immer für Verhandlungen mit der Türkei eingetreten. Ich habe aber auch immer im Unterschied zu anderen Beitrittsfällen gesagt, dass der Prozess offen ist. Denn was da herauskommt, wird etwas anderes sein als alle Beitritte bisher. In 20, 30 Jahren wird allein der Arbeitsmarkt der Türkei zwischen 70 und 100 Millionen Menschen umfassen.

Das ist anders zu bewerten als eine Region mit in Summe gerade mal 15 Millionen Menschen. Das Verfahren mit der Türkei wird mit allen Absicherungen sowie der gebotenen Offenheit und Vorsicht geführt. Ich stelle auch klar, dass es zumindest in Österreich eine Volksabstimmung über einen Beitritt der Türkei geben wird.

SZ: Unmittelbar steht die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien an. Die Länder zeigen große Defizite bei der Einführung europäischer Standards. Ist es Zeit für ein deutliches Signal?

Schüssel: Der Bericht der Kommission von Ende September ist sehr objektiv, er ist ernst zu nehmen. Im Moment wird fieberhaft an der Umsetzung gearbeitet. Die Regierung in Bulgarien ist Mitte August gebildet worden, sie hat bisher kaum Zeit gehabt. Mittlerweile haben sie 40 Gesetze geändert im Sinne des Berichts. Da wird es jetzt dramatische Veränderungen geben. Ich glaube, dass sich Bulgarien und Rumänien sehr anstrengen. Jetzt hängt es von der Umsetzung der Gesetze ab, von Richterbesetzungen, von der Ernennung unabhängiger Staatsanwälte.

SZ: Österreich sieht sich als besonderer Fürsprecher für die Länder des Balkans. Größte politische Gefahr besteht im Kosovo bei der Suche nach einem neuen Status. Die UN drängen die EU zur Verantwortung. Ist die EU dazu bereit?

Schüssel: Serbien hat sehr schwere Probleme vor sich: Der Druck für eine Verhaftung von General Mladic wächst, innenpolitisch gibt es harte Diskussionen über die Zukunft des Verbundes Serbien und Montenegro, die Privatisierung stellt hohe Anforderungen. Ich plädiere dafür, dass wir die Würde der Serben sehr ernst nehmen, dass wir ihnen zuhören und dass wir sie ermutigen, die schwierigen Schritte zu tun. Es wird unvermeidlich sein, einen neuen Status für den Kosovo zu finden. Aber das kann nur im Dialog mit den Partnern geschehen.

SZ: Die nach Osten offene Geografie Europas bringt sofort das alte Thema über Kerne, variable Geometrien oder Privilegien einzelner Länder auf den Tisch. Wird der Gedanke jetzt reif?

Schüssel: Der Gedanke ist schon alt, aber er wird dadurch nicht besser. Die neue deutsche Kanzlerin hat einen klugen Satz gesagt: Gäbe es einen Kern, dann wäre Europa gescheitert. Wir würden damit eingestehen, dass sich Europa nicht gemeinsam weiterentwickeln kann. Kerne können eine Übergangslösung sein - Übergänge für Mitglieder, die eines Tages bereit sind, alle Bedingungen zu erfüllen. Aber sie müssen immer die Option für alle offen halten.

SZ: Dennoch ist Europa an seine Aufnahmegrenze gestoßen, weil es im Inneren festgefahren ist. Wie lösen Sie die Bremse?

Schüssel: Wir müssen handlungsfähig sein in den Feldern, in denen nur Europa etwas bewegen kann. Aber wir müssen auch nachlassen können, Aufgaben und Kompetenzen zurückgeben an die Nationen, Regionen, Gemeinden, an die Bürgergesellschaft. Die Verfassungs-Referenden in Frankreich und Holland waren ein sehr deutliches Signal, eine Flammenschrift an der Wand. Die gilt es nun zu entschlüsseln.

SZ: Am Ende Ihrer Präsidentschaft endet auch die Phase der Entschlüsselung. Muss nicht zunächst der Erweiterung Einhalt geboten werden, bis die Werkzeuge für eine größere EU da sind?

Schüssel: Ich plädiere dafür, dass Verträge eingehalten werden. Das gilt für Rumänien, Bulgarien und den Westbalkan. Auch die Türkei hat ihre Perspektive. Darüber hinaus plädiere ich dafür, den Blick nach innen zu richten und uns fit zu machen für diese gewaltige, veränderte Union. Das ist noch nicht geschehen. Wir arbeiten noch immer mit dem Vertrag von Nizza, obwohl er überholt ist.

SZ: Also doch die Verfassung?

Schüssel: Wir dürfen nicht anfangen beim Text der Verfassung, sondern müssen viel tiefer schürfen. Wir müssen das Unbehagen zulassen. Nicht jeder, der Skepsis äußert, ist ein Feind Europas. Wer ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs kritisiert, ist nicht automatisch ein Feind der EU.

SZ: Was konkret bringen Sie während der Präsidentschaft voran?

Schüssel: Wir müssen über die Defizite reden, die wir haben. Da kann die Identitätsdiskussion im Januar helfen, aber auch die Subsidiaritätskonferenz, die wir uns vorgenommen haben, wo es um bessere Regeln geht. Dann kommt der Dialog mit der Bevölkerung dazu. Am 9. Mai ist Europatag - ich würde mir wünschen, wenn wir in diesen Wochen über die Fragen von Inhalt, Verfassung, und die Institutionen reden.

SZ: Ein Beispiel?

Schüssel: Wenn der Europäische Gerichtshof prinzipiell rückwirkende Entscheidungen trifft, dann muss das überdacht werden. Bei unseren höchsten Gerichten gibt es auch immer eine Verhältnismäßigkeitsprüfung - ist ein Urteil also angemessen? Und bei uns wird immer das Subsidiaritäts-Argument geprüft - niemand kann schleichend eine zentralistische Note in die Rechtsprechung hineinlegen. Der Gerichtshof aber weitet in den letzten Jahren systematisch europäische Befugnisse aus, selbst in Bereichen, wo es dezidiert kein Gemeinschaftsrecht gibt. Da entstehen plötzlich Judikate etwa über die Rolle der Frauen in der deutschen Bundeswehr oder über den Universität SZugang ausländischer Studenten an österreichischen Hochschulen - das ist klares nationales Recht.

SZ: Das Beispiel mit dem Gericht zeigt ja die Unvollkommenheit des Systems. Darüber gab es doch eine lange Diskussion, am Ende stand die Verfassung.

Schüssel: Über das Gericht stand nichts drin. Aber Sie haben Recht, die Verfassung hätte wichtige Antworten gegeben, weshalb ich sie unterstützt habe. Wir müssen jetzt den Faden aus dieser Debatte wieder aufnehmen.

SZ: Sind Sie für eine Fortsetzung des Ratifizierungsverfahrens?

Schüssel: Ich bin erst einmal für eine Diskussionsphase. Wichtig ist, dass man sich Klarheit verschafft über die Sorgen der Bürger. Wir müssen etwas Neues anbieten.

SZ: Was kann der materielle Gewinn der österreichischen Präsidentschaft in dieser Diskussion sein? Über welche Werkzeuge und Mechanismen können Sie jetzt schon Klarheit schaffen?

Schüssel: Das Erste wäre, dass man die Identitätsfrage stärker akzentuiert und die Botschaft aussendet, es gibt keinen europäischen Einheitsbrei, sondern mehrere Identitäten, die den europäischen Klang ausmachen. Wir sind alle wichtig. Zweitens müssen Deregulierung und Subsidiarität ernst genommen werden. Dann muss die Diskussion kommen, rund um den Europatag, und wir sollten einige Punkte besprechen: die Rolle des Gerichtshofs, die einer Klarstellung bedarf. Vielleicht braucht es auch eine zusätzliche Ebene, die das Verhalten des Gerichts legitimiert. Und schließlich ist der Gedanke von Kanzlerin Merkel sehr interessant, das europäische Lebensmodell stärker durch eine Sozialerklärung zu verdeutlichen. Am Ende der Präsidentschaft im Juni sollten wir einen Fahrplan erarbeiten, wie wir zu einer Lösung kommen - am besten bis Ende 2007.

SZ: Allzu konkret dürfen Sie aber auch nicht werden, um nicht Franzosen und Niederländer zu erschrecken.

Schüssel: Wir wollen ja niemanden erschrecken, aber der Grundgedanke wäre ein Europa, auf das man sich wieder freut und vor dem man sich nicht fürchtet. Wir wollen ja nicht Frankensteins Monster wiederbeleben.

SZ: Sollte man einzelne Bereiche des Vertrags, technischer Natur, ausklammern und verabschieden?

Schüssel: Das ist ein wenig die Mechaniker-Schiene. Wir ändern drei Ventile. Wir tauschen ein Radl aus, wir streichen das Auto neu an. Das kann Teil des Prozesses sein, man wird das Ergebnis aber nicht vorweg nehmen können. Wir werden um einen ehrlichen Diskussionsprozess nicht umhin können.

SZ: Gehört zu dieser Diskussion auch eine EU-Steuer, gerade nach dem jüngsten Finanzstreit?

Schüssel: Das alte System ist ausgereizt. So können wir nicht weitermachen. Das nächste Mal werden wir uns an die Gurgel springen. Wenn wir eine ehrliche Finanzierung wollen, muss in der Überprüfung der Kommission alles auf den Tisch: Die Eigenmittel, die Rabatte, die Sonderregelungen, die Ausgaben. Ich vermeide das Wort von der EU-Steuer, das ist eine Killervokabel. Wir müssen aber jetzt das Thema den Menschen erklären, um dann in acht Jahren eine Finanzvorschau erstellen zu können.

SZ: Gibt es in acht Jahren das Europa noch, wie Sie es sich wünschen?

Schüssel: Es gibt in Europa 300 Sprachen und noch einmal 500 Dialekte. Jede dieser Sprachen ist Identität, eine Welt für sich. Das ist mein Europa. Europa sieht aus wie unser Logo für die Präsidentschaft mit den vielen Flaggen, die zusammen ein fröhliches buntes Bild ergeben. Jeder Beitritt hat Europa bereichert. Das ist doch die unerhörte Stärke der EU, dieses kollektive Wissen aus den unterschiedlichen Identitäten zu einer kraftvollen Politik zu vereinen. Das ist mühsam, aber am Ende werden wir dadurch stärker.

© SZ vom 31.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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