Christian Mihr, 45, ist seit 2012 Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, einer Organisation, die Verstöße gegen die Presse- und Informationsfreiheit dokumentiert und gegen Zensur kämpft.
SZ: Was tut Reporter ohne Grenzen gerade für Journalisten und Journalistinnen in Russland?
Christian Mihr: Die Lage ist, wie die komplette Kriegslage, gerade sehr diffus. Wir sind zum einen mit vielen Journalistinnen und Journalisten in Russland in Kontakt und versuchen, sie bei einer möglichen Ausreise zu unterstützen. Das ist gerade in Russland nicht so einfach, weil sie, im Gegensatz zu Menschen, die aus der Ukraine gerade fliehen, ein Visum brauchen. Und es gibt natürlich keine direkten Flüge mehr in westeuropäische Länder, sondern die Einreise läuft über Drittstaaten. Es gibt unter den Journalisten vor Ort eine große Angst gerade. Das zweite, eher präventiver Art, ist unsere Collateral Freedom Action. Im Prinzip spiegeln wir zensierte Webseiten, legen diese in Clouds und versuchen, sie so wieder zugänglich zu machen. Das ist natürlich, muss man ganz ehrlich sagen, ein Tropfen auf den heißen Stein, aber besser als nichts. Und drittens bauen wir unsere sogenannten Tor-Bridges aus, um das anonyme Surfen und Bewegen im Netz zu ermöglichen. Ansonsten ist es eine sehr dynamische Lage.
Wie bewerten Sie die Entscheidung vieler internationaler Medien, die Berichterstattung vor Ort in Russland vorerst auszusetzen?
Ein Aussetzen ist ja noch kein komplettes Einstellen. Ich kann das gut nachvollziehen, weil das Gesetz offenbar explizit auch für ausländische Medien gelten soll. Es heißt, man kann ins Gefängnis kommen wegen Falschberichterstattung. Das muss man erst mal bewerten. Offenbar hat Russland einen eigenen Wahrheitsbegriff. Eigentlich, wenn man das Gesetz wortwörtlich nehmen würde, sollte es für ein ausländisches Medium kein Problem sein zu berichten. Denn der Auftrag von Medien wie ARD, ZDF oder BBC ist es ja eben, wahrhaftig zu berichten. Aber wenn man einen anderen Wahrheitsbegriff zugrunde legt, dann wird es zum Problem, auch wenn es fatal ist. Die Informationsräume schließen sich, und es ist ein dunkler Schleier, der sich über das Land legt.
Ist durch die neue Gesetzeslage die Unterscheidung zwischen ausländischen Medien, die bisher freier aus Russland berichten konnten, und nationalen russischen Medien vollkommen gefallen?
Das ist genau die neue Qualität, mit der man jetzt zu tun hat. Das scheint so zu sein. Hinzu kommt, dass auch noch Verbreitungswege durch die Sperrung von Facebook und Twitter eingeschränkt sind. Und deswegen ist das ja so fatal.
Zensurumgehung ist einer Ihrer Schwerpunkte. Sehen Sie dafür noch weitere Ansätze in Russland?
Auch da muss man jetzt mal beobachten, ob das ein Rückfall in sowjetische Verhältnisse ist. Bei der Nowaja Gaseta hat man ja zunächst einmal alle Berichte gelöscht. Aber Leserinnen und Leser haben auch vorgeschlagen, dass man sich auf die Begrifflichkeiten des Kremls einlassen könnte, nicht mehr von "Krieg" sprechen müsste und codierte Sprache anwenden könnte. Dass man lernen muss, zwischen den Zeilen zu lesen. Aber das ist letztlich auch keine Pressefreiheit. Im Moment ist erst mal wirklich nackte Angst bei den allermeisten Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir zu tun haben.