Ein Junge, sechs Jahre alt, wälzt sich im Treppenhaus auf einer Stufe. Er schimpft auf seine Lehrerin, schreit: "Du Penner!" Eine Hilfskraft will ihn beruhigen, Miguel übertönt sie mit lautem "Lalalalaa". Man kann ihn in der Klasse hören, wo die anderen 21 Erstklässler mit Frau Hess, der Lehrerin, lesen üben. Sechs von ihnen brauchen eine spezielle Förderung. Früher wären sie auf eine Sonderschule gegangen, jetzt lernen sie gemeinsam mit Regelschulkindern, und auch die warten darauf, dass Frau Hess auf sie eingeht. Wenn die Sonderpädagogin kommt, acht Stunden pro Woche, schafft sie das auch. In allen anderen Stunden zerreißt sie sich, oft vergeblich. Draußen hallt Miguel durchs Treppenhaus: "Du Arschloch!"
Die Szene stammt aus dem Dokumentarfilm "Ich. Du. Inklusion". Er läuft von dieser Woche an in mehr als 60 deutschen Kinos und gibt einer umstrittenen Misere ein Gesicht: Beim gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung klaffen Anspruch und Wirklichkeit so krass auseinander, dass immer mehr Lehrer und Eltern alarmiert sind. Ihre Klage: Wir wollen die Inklusion, aber nicht so. Sonderpädagogen, Räume für Kleingruppen, Weiterbildung, anständig bezahltes Hilfspersonal - es fehlt an allem. Dabei werden die Schüler mit attestiertem Förderbedarf nicht weniger. Seit Deutschland 2009 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifizierte, was zu unterschiedlichen Inklusionsmodellen führte, ist ihre Anzahl um mehr als 34 000 auf 517 400 gestiegen.
Das Problem dabei: Die Gruppe, die am meisten Zuwendung braucht, wächst am stärksten. Das sind nicht die geistig oder körperlich beeinträchtigten Kinder, sondern die mit "emotional-sozialer Entwicklungsstörung" - früher als "schwer erziehbar" etikettiert. Laut Kultusministerkonferenz stieg ihre Zahl von 2005 bis 2015 um 86 Prozent auf 85 500, mehr als jeder Zweite von ihnen besucht eine Regelschule. Zu dieser Entwicklung hat der Berliner Psychoanalytiker Bernd Ahrbeck dem Verband Bildung und Erziehung nun eine Expertise vorgelegt. Darin warnt er davor, die Verfassung der Kinder zu bagatellisieren. Die meisten seien bindungsgestört und durch innere Konflikte "stark beeinträchtigt". Das führe zu Hyperaktivitäts-Aufmerksamkeitsstörungen und einer "Struktur- und Regellosigkeit mit aggressiv ausagierendem Verhalten".
Durch die Klasse trampeln, Stühle umwerfen, unter Tische kriechen - bei nur einer Lehrkraft steht der Unterricht dann still. Ahrbeck fordert, in Inklusionsklassen "fast regelhaft" hoch qualifizierte Sonderpädagogen einzusetzen. In der Sprache der Lehrer heißt das: eigentlich immer. Stattdessen erhalten sie nur wenig Hilfe, fast überall fehlen Sonderpädagogen, die wenigen vorhandenen eilen oft von Schule zu Schule. Trauriges Schlusslicht ist Berlin. "Nur 39 Prozent der Stellen sind dort auch wirklich mit Fachkräften besetzt", kritisiert Ahrbeck.
Im Film sagt ein Vater: "Ich fahr doch auch nicht mit zehn Euro Sprit nach Köln, wenn ich weiß, das reicht nicht." Das Dilemma der Inklusion. Dabei hat Regisseur Thomas Binn keine Brennpunktschule begleitet, sondern eine ganz normale. Nach 80 Drehtagen war ihm klar: "Die politische Umsetzung der Inklusion ist eine Vollkatastrophe."