Inklusion:Das Gegenteil von gemeinsam

Lesezeit: 3 min

Spielzeug hilft Frederick beim Lernen. Da ist der Junge mit dem Down-Syndrom nicht anders als seine Klassenkameraden. (Foto: privat)

Der Fall eines Siebenjährigen mit Down-Syndrom zeigt, wie gefährdet Inklusions-Erfolge in Corona-Zeiten sind. Ihm trauten die Lehrer nicht zu, die Abstandsregeln zu verstehen.

Von Edeltraud Rattenhuber, München

Der Morgenkreis fiel zwar aus, doch ansonsten lief alles normal an diesem Donnerstag. Frederick musste nicht in den "gläsernen Käfig", wie sein Vater es nennt, sondern bekam einen eigenen Tisch im Klassenzimmer, gemeinsam mit dem ihn begleitenden Erzieher. Alles prima, also? Fürs Erste ja. Doch der Fall Frederick zeigt, dass Inklusion auch mehr als zehn Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ein zartes Pflänzchen ist. Der Siebenjährige geht in die erste Klasse einer Hamburger Grundschule, er hat das Down-Syndrom und ist Inklusionskind. Sein erster Schultag nach dem Corona-bedingten Lockdown in Hamburg sollte zunächst nach einem besonderen Hygienekonzept ablaufen. Frederick, so war der Plan, sollte von seinen Klassenkameraden getrennt in einem Nebenraum sitzen, bis er die nötigen Abstands- und Hygieneregeln verinnerlicht habe - zu seinem eigenen und zum Schutz der anderen Kinder, wie es zur Begründung hieß.

Fredericks Vater Ralf von der Heide hat das so empört, dass er einen Brandbrief schrieb. Die lokale Presse brachte anklagende Berichte. So wurde der Fall Frederick letztlich zu einem Lehrstück dafür, was in Corona-Zeiten und darüber hinaus mit der Inklusion an Deutschlands Schulen passieren kann, wenn die Betroffenen nicht ganz genau aufpassen. Denn Inklusion ist ein Menschenrecht. Es gehe dabei, wie der Bundes-Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel betont, nicht "um irgendwas Nettes, sondern um die Umsetzung von fundamentalen Grundrechten".

Frederick sollte am ersten Schultag in einem "gläsernen Käfig" sitzen - eigentlich

Behindertenverbände klagen seit Wochen, dass die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und deren Eltern und anderer Bezugspersonen in der Krise schlichtweg vergessen wurden. Behindertenwerkstätten, Förderschulen - alles geschlossen. Keine außerschulischen Maßnahmen oder Therapien mehr. Das hat Eltern an den Rand der Belastbarkeit gebracht. Dass es eine besondere Erschwernis ist, ein geistig oder psychisch belastetes Kind mit möglichen Mehrfachbehinderungen rund um die Uhr zu Hause zu versorgen, wird wohl niemand bezweifeln. Auch fühlen sich Menschen mit Behinderungen in der Krise zunehmend außen vor. Maskenpflicht für Gebärdensprachler, Verweigerung des Zugangs zu Supermärkten, wenn behinderte Menschen aus besonderen Gründen keine Masken tragen können. Beschwerden wie diese gingen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein. "Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie zeigt sich schändlich, wie weit Deutschland trotz UN-Behindertenrechtskonvention noch von Inklusion und Barrierefreiheit entfernt ist", klagt die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben.

Auch für die Eltern von Frederick war es nicht einfach, als die Schule geschlossen war. Ohne Betreuung, ohne Lernkonzept. Dass sein Schulalltag nun unter Bedingungen wieder losgehen sollte, die der Inklusion aus ihrer Sicht zuwiderlaufen, hat sie aufgebracht. Behördlicherseits wurde zwar argumentiert, Regelungen wie diese machten möglich, dass Inklusionskinder wie Frederick überhaupt in die Schule gehen könnten. Auch würde die Regelung nicht dauerhaft gelten. Dass seine separierte Unterbringung überhaupt erwogen wurde, führt aber für seinen Vater zu der grundsätzlichen Frage, was Frederick und die anderen Kinder wohl daraus gelernt hätten. Wohl vor allem, dass er nicht dazugehöre.

Der Beauftragte der Regierung warnt vor schwindender Solidarität in der Krise

Die Vorsitzende der Lebenshilfe Bundesvereinigung, Ulla Schmidt, nennt einen solchen Umgang mit einem Kind wie Frederick "das genaue Gegenteil von Inklusion". Grundschulkinder könne man generell nicht stundenlang dazu bringen, Abstandsregeln einzuhalten, sagt sie. Frederick sei da nicht der einzige. Schmidt klagt über die Rückschritte, die in Corona-Zeiten gemacht wurden, was Teilhabe betreffe. "Wir haben in den Wochen des Lockdowns schmerzhaft erfahren müssen, dass vieles, was wir auf den Weg gebracht haben, in der Krise nicht mehr vorhanden war." Allerdings sei die Krise auch eine Chance, weil sowieso Überlegungen angestellt werden müssten, wie Schule neu zu organisieren sei. Kleinere Gruppen durch Schichtbetrieb, individualisiertes Lernen. "Da müssen wir von Anfang an inklusiv denken."

Jürgen Dusel argumentiert in die gleiche Richtung. "Ich nehme wahr, dass wir an Solidarität verlieren", sagt der Behindertenbeauftragte. In letzter Zeit sei die Aggressivität in der Gesellschaft gestiegen, auch gegenüber Menschen mit Behinderungen. Dusel appelliert an die Achtsamkeit der Menschen, auch damit bestehende Teilhabe-Erfolge seit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention nicht aufs Spiel gesetzt würden. "Es ist ganz wichtig, in der Krise den Spagat zu schaffen zwischen der Sicherheit für vulnerable Gruppen und den Freiheitsrechten der Menschen", sagt er.

Familie von der Heide ist jetzt erst einmal froh, dass der aufregende erste Schultag pragmatisch über die Bühne ging. Und gespannt, ob Frederick auch die nächsten Schultage wieder im Klassenzimmer sitzen wird - inmitten all der anderen.

© SZ vom 29.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: