Es gibt Gesetze, die werden angerührt wie Fertigsuppen und sind in null Komma nichts auf dem Tisch. So schmecken sie dann auch; die Sicherheitsgesetze der vergangenen Jahre sind ein elendes Beispiel dafür.
Es gibt aber auch Rechte, die lagern vergessen im Keller der Geschichte und brauchen ewig, bis sie Gesetz werden. Im Fall des deutschen Informationsfreiheitsgesetzes hat diese Ewigkeit besonders lang gedauert, nämlich von 1830 bis heute.
Im Jahr 1830 erschien in Carl von Rottecks Zeitschrift Allgemeine politische Annalen unter der Verfasserangabe "X" der wunderbare Aufsatz "Über die Öffentlichkeit", der heute so unbekannt ist wie sein Autor Carl Gustav Jochmann.
Dieser Advokat aus Riga ist der Ahnherr des Informationsfreiheitsgesetzes, das soeben in Kraft getreten ist und seit dem 1. Januar 2006 ein neues Bürgerrecht gewährt: Jeder hat jederzeit ein Recht auf Einsicht in amtliche Akten, Unterlagen, Dateien und Registraturen. Man muss nicht mehr, wie bisher, persönlich und konkret in einem laufenden Verwaltungsverfahren betroffen sein, um bei den Behörden Akteneinsicht zu bekommen.
Neugier genügt - weil Neugier auf die öffentlichen Angelegenheiten eine Grundlage der Demokratie ist und weil ohne die Kenntnis von den öffentlichen Angelegenheiten der Bürger nur ein halber Bürger ist.
Das Informationsfreiheitsgesetz ist ein "Verwaltungsinformations-Zugangsgesetz" und gewährt ein Recht, das, obwohl es in weltweit fünfzig Ländern existiert, in Deutschland immer noch ungläubiges Erstaunen und Befremden auslöst, zumal bei den betroffenen Behörden.
Die neue Offenheit widerstrebt nämlich einem alten Grundzug deutscher Verwaltung, dem Arkanprinzip. Danach war bisher grundsätzlich alles vertraulich und dem Amtsgeheimnis unterworfen, was sich in einer Behörde tut.
Ende der Geheimniskrämerei
Nun aber, seit dem 1. Januar 2006, ist nicht mehr die Geheimhaltung der Informationen die Regel, sondern ihre allgemeine Zugänglichkeit. Jeder hat einen Rechtsanspruch auf Zugang zu den amtlichen Informationen, es sei denn, es liegen im Einzelfall spezielle Ausschluss- oder Beschränkungsrechte vor.
Nicht mehr der Zugang zu den Informationen der Behörden ist an Bedingungen geknüpft, sondern deren Geheimhaltung. Der Staat muss begründen, warum er Unterlagen nicht herausrückt, nicht der Bürger, warum er sie haben will. Das Wort "Amtsgeheimnis", das zu den Hauptwörtern deutscher Bürokratie gehört, verliert an Bedeutung.
Carl Gustav Jochmann hat das vor 175 Jahren vorausgedacht. Man muss ein paar Sätze sagen über den Mann, der 1789 in Pernau am Rigaer Meerbusen geboren wurde, vor den napoleonischen Truppen nach England floh, zurückkehrte nach Riga, um dann auf Reisen durch Deutschland, die Schweiz und Südfrankreich Heilung für seine Leiden zu suchen; 1830 starb er, ein geistiger Erbe Herders, in Naumburg.
Weil die aufklärerisch-demokratischen Traditionen des deutschen Bürgertums im wilhelminischen Deutschland verleugnet wurden, wäre Jochmann wohl auch dann ziemlich unbekannt geblieben, wenn er seine meisten Texte nicht anonym publiziert hätte.
"Der Preis, der einzige Preis, um den uns die Wahrheit ihre Orakel verkauft, heißt Öffentlichkeit", schreibt Jochmann und entwickelt eine Theorie, die im Prinzip "Öffentlichkeit" den Verbündeten "jedes schwächeren Teils der Gesellschaft und jedes bedrohten Rechtes" sieht.
Baum der Freiheit
Die Öffentlichkeit ist für Jochmann "Bedingung der Freiheit wie des Rechts", und kein anderes Verfassungsprinzip könne sie ersetzen.
"Der Baum der Freiheit wird wie jeder andere an seinen Früchten erkannt", schreibt Jochmann. Das Informationsfreiheitsgesetz gehört zu diesen Früchten. Der Akteninhalt von Behörden wird durch dieses Gesetz zur allgemein zugänglichen Quelle im Sinn des Artikels 5 Grundgesetz erklärt: "Jeder hat das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten".
Es gab massive Gegenkräfte: Die CDU/CSU lehnte das rot-grüne Gesetz ab, Beamte der damaligen Bundesregierung versuchten es zu verhindern, die rot-grüne Bundesregierung selbst hatte keine Freude mehr an ihrem Gesetz, die Fraktionen von SPD und Grünen mussten es betreiben.
Bei den Befürwortern hieß es, das Gesetz führe zu mehr Transparenz und könne Korruption vermeiden helfen, weil jedem Bearbeiter klar sei, dass seine Akten eingesehen werden können. Die Gegner kritisierten, das Gesetz behindere und überlaste die Verwaltung und stehe im Widerspruch zu den Bemühungen um Deregulierung und Verfahrensbeschleunigung.
Die Verwaltungen würden unter dem Sturm der Informationswünsche zusammenbrechen - wenn nicht, dann sei das Gesetz ohnehin überflüssig. Ohne die FDP gäbe es noch kein Informationsfreiheitsgesetz: Sie verhinderte im Bundesrat, dass es an den Vermittlungsausschuss verwiesen wurde; es wäre dort der Auflösung des Bundestags zum Opfer gefallen.
Das neue Gesetz, das die Akten öffnet, gilt freilich nur für Bundesbehörden - dazu zählen auch Bundestag, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichte und Bundesbank, soweit dort öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben vorgenommen werden.
"Es ist nicht einzusehen", so das Argument von Transparency International, "warum nicht einmal die Mitglieder des Parlaments die umstrittenen Vereinbarungen des Vertrags über die LKW-Maut kennen sollen, während gleichzeitig Einnahmeausfälle für die öffentliche Hand in Milliardenhöhe entstehen".
Noch interessanter für Normalbürger sind die Informationen, die noch näher am Alltag liegen - in den Behördenakten über den Bau von Straßen, Kindergärten oder Schulen also. In den Bundesländern gibt es allerdings bislang nur in Brandenburg, Berlin, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ein solches Gesetz.
Gäbe es dies auch in Bayern, könnte jeder Bürger jetzt bei der Stadt Bad Reichenhall Akteneinsicht beziehungsweise, gegen Gebühr, Kopien aus Amtsunterlagen verlangen: Wie oft ist das Dach des Eisstadions geprüft worden? Und wer hat in diesem Zusammenhang welche Entscheidungen getroffen?
Gute Erfahrungen
Die Erfahrungen in den vier genannten Bundesländern sind nicht schlecht; die Verwaltungen sind nicht zusammengebrochen, im ersten Evaluierungsbericht in Nordrhein-Westfalen ist von einem "verantwortungsbewussten Umgang der Bürger mit ihrem neuen Recht" die Rede.
In Schleswig-Holstein waren Anfrageschwerpunkte das Baurecht, Verkehrszählungen, Schulmaßnahmen, die Privatisierung von Stadtwerken. Das Gesetz hat wohl auch pädagogische Wirkung: In Wuppertal lehnte das Sozialamt im Jahr 2002 den Antrag des Vorsitzenden der lokalen Selbsthilfe-Initiative "Tacheles" auf Einsicht in das örtliche "Handbuch der Sozialhilfe" ab; es handelte sich um die amtsinternen Ausführungsbestimmungen für die Bearbeitung von Sozialhilfeanträgen.
Der Antragsteller ging den Rechtsweg, und auf einmal bequemte sich das Amt, dem Wunsch der Initiative doch zu entsprechen.
Zwei Berufsgruppen haben besonders großes Interesse am neuen Gesetz: Journalisten und Rechtsanwälte. Rechtsanwälte mussten bisher außerhalb eines konkreten Verwaltungsverfahrens ein "berechtigtes Interesse" an den von ihnen begehrten behördlichen Informationen nachweisen; es genügte aber nicht, dass der Anwalt auf dem Gebiet, aus dem er Informationen begehrte, beratend und vertretend tätig war.
Behördliche Erlasse mussten nicht öffentlich bekannt gemacht werden, blieben also vielfach unbekannt. Damit ist es nun vorbei. Der Vorteil für Journalisten liegt auf der Hand: Sie können besser als bisher und ganz offiziell in Akten und Dokumenten recherchieren, sie sind weniger auf Tipps und Indiskretionen angewiesen.
Viele Nachrichten über den Irak-Krieg wurden in den USA erst durch Anfragen nach dem Freedom of Information Act (FOIA) ermöglicht, da offizielle Stellen von sich aus kaum Informationen gaben. Und dass der texanische Governeur Bush durchschnittlich nur 15 Minuten auf die Prüfung eines Todesurteils verwandte, fand die New York Times nicht durch Geheimnisverrat heraus, sondern durch einen offiziellen FOIA-Antrag.
Der deutsche Jurist Tobias Bräutigam, der in Helsinki forscht, hat in Finnland, wo es schon länger ein Informationsfreiheitsgesetz gibt, Auswüchse konstatiert: In nachrichtenarmen Zeiten würden in finnischen Boulevardblättern regelmäßig die Gehälter bekannter Persönlichkeiten oder die Informationen aus den Fahrtenbüchern der Dienstwagen hoher Beamter kundgegeben.
Terminkalender gehört nicht zu den Akten
In Berlin ist gerade ein Journalist in erster gerichtlicher Instanz gescheitert, der Einsicht in den Terminkalender des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit wollte: Der Terminkalender zähle nicht zu den Akten der Verwaltung. Wegen der "grundsätzlichen Bedeutung" der Sache wurde immerhin Berufung zum Oberverwaltungsgericht zugelassen.
In den USA ist der Ur-Typ eines Informationsfreiheitsgesetzes, der Freedom of Information Act von 1966, erst durch eine Novelle nach der Watergate--Affäre zur scharfen Waffe der Presse geworden: Der Anwendungsbereich der Ausnahmeregelungen, der exemptions, wurde 1974/75 verkleinert.
Sie sind auch der Pferdefuß des deutschen Gesetzes. Manfred Redelfs von der Journalistenorganisation Netzwerk Recherche sagt: "Der Gesetzentwurf ist wie ein Auto, das mit angezogener Handbremse fährt", weil der Grundsatz der Transparenz durch weit gefasste Ausnahmen sehr begrenzt wird. Kritiker reden schon von einem Informationsverweigerungsgesetz.
Das verkennt die grundsätzliche Bedeutung des Gesetzes als, "Einstiegsgesetz in die Informationszugangsfreiheit beziehungsweise als Ausstiegsgesetz aus der Arkanverwaltung", wie der Berliner Rechtsprofessor Michael Kloepfer sagt. Aber in der Tat: Die fünfzehn Paragrafen des Gesetzes regeln vor allem, wann Informationen nicht erteilt zu werden brauchen.
Das betrifft nicht nur behördliche Verschlusssachen und den Persönlichkeitsschutz, sondern auch "nachteilige Auswirkungen" für die Behörden - ein Gummibegriff. Wenn das Bekanntwerden einer Information nachteilige Auswirkungen auf Sicherheitsinteressen, auf internationale Beziehungen oder die Kontrollaufgaben der Finanz- oder Wettbewerbsbehörden "haben kann" , gibt es keinen Anspruch.
Schön wäre es gewesen", schreibt das Anwaltsblatt, "wenn der Gesetzgeber wenigstens die Formulierung Nachteil hat" verwendet hätte".
Geschützt vor Akteneinsicht werden die fiskalischen Interessen des Bundes, auch echte oder angebliche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gelten als Informationsverweigerungsgrund. Informationen gibt es hier nur, wenn das betroffene Unternehmen zustimmt - also so gut wie nie.
In diesen Fällen muss sich der interessierte Bürger die Information erstreiten. Auch dabei sind die Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen positiv: Ob es um die gespendete neue Amtskette für den Bürgermeister ging, um Grundstückskaufverträge, um Verträge zur Überlassung öffentlicher Marktflächen oder um Cross-Border-Leasing-Geschäfte - Informationsverweigerung mit der Begründung Betriebsgeheimnis hat, so die nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte Bettina Sokol, "soweit bekannt noch in keinem Fall gerichtlicher Nachprüfung standgehalten".
Bis zu 500 Euro pro Auskunft
Datenschutz und Informationsanspruch: Das sind gegeneinander gerichtete Rechte. Es verblüfft, dass das Informationsfreiheitsgesetz den Bundesdatenschutzbeauftragten auch zum Beauftragten für die Informationsfreiheit macht. Peter Schaar, der derzeitige Amtsinhaber, "sieht da aber keine Konflikte".
Allerdings hat er schon jetzt einen Antrag auf dem Tisch liegen, wonach er als Informationsbeauftragter Schaar das Informationsverhalten des Datenschutzbeauftragten Schaar überprüfen soll. Spiros Simitis, der Doyen des Datenschutzrechts in Deutschland, versucht, den Gegensatz zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit aufzulösen: In beiden Fälle gehe es um die "Kommunikationsfähigkeit des Einzelnen", sagt er.
Der Datenschutz sorge dafür, dass der Einzelne nicht dadurch manipulierbar wird, dass andere alles über ihn wissen; das Informationsrecht sorge dafür, dass er als Bürger agieren kann.
Und was kosten die Informationen? Die Gebührenordnung soll demnächst vorgestellt werden, etwa so: Bei Bagatellen nichts (in Nordrhein-Westfalen gilt das für vierzig Prozent der Auskünfte), im Normalfall wenig, im Höchstfall 500 Euro.
An den Kosten sollte der Zugriff auf amtliche Informationen nicht scheitern. An den vielen Ausnahmebestimmungen schon, und auch daran, dass die Behörden künftig womöglich nur noch beschränkte Aktenführung pflegen.
In der Theorie ist das neue Gesetz ein revolutionärer Akt. Ob er das auch in der Praxis wird, muss sich zeigen. Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis wichtiger als in der Theorie.