INF-Vertrag:Mittlere Reichweite

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Ab zur Verschrottung: In Anwesenheit von sowjetischen Technikern begann 1988 im US-Depot in Hausen die Demontage der ersten neun Startlafetten von insgesamt 114 in Deutschland stationierten Pershing-Raketen. (Foto: Wolfgang Eilmes/picture alliance/dpa)

Nach einer geheimen Depesche wusste die Bundesregierung früh von Überlegungen der USA, auszusteigen.

Von Daniel Brössler und Georg Mascolo, Berlin

Wenn sie es denn will, kann die US-Regierung sehr rücksichtsvoll sein. Selbst mit einem Donald Trump als Präsidenten an der Spitze. Im Sommer des vergangenen Jahres, sieben Wochen vor der Bundestagswahl, traf eine geheime Depesche in Berlin ein, Absender war der damalige deutsche Botschafter in Washington, Peter Wittig. Der Spitzendiplomat war kurz zuvor im Weißen Haus davon unterrichtet worden, dass eine schlechte Nachricht näherrücken könnte. Aber dass man darüber erst einmal Stillschweigen bewahren wolle, aus Rücksicht auf "übergeordnete politische Belange". Es ging um den sogenannten INF-Vertrag, eines der bedeutendsten nuklearen Rüstungsabkommen. Das Abkommen aus dem Jahr 1987 führte zur Verschrottung Tausender Raketen und Marschflugkörper.

Wittig erfuhr, dass die Trump-Regierung dabei war, über den Ausstieg nachzudenken aus dem Abkommen, das Besitz, Produktion und Tests landgestützter Flugkörper mit mittlerer und kurzer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometer verbietet. Hintergrund war die Überzeugung der USA, dass Russland die Vereinbarung mit der Stationierung des neuen Marschflugkörpers SSC-8 gebrochen habe. Aber in keinem Fall werde es, wurde von den Amerikanern versprochen, entsprechende Ankündigungen vor den deutschen Wahlen geben. "No public announcement before German elections", zitierte Wittig seine Gesprächspartner. Vor allem im Kanzleramt wurde die Nachricht mit Erleichterung aufgenommen.

Kein Land hat stärker von dem Abkommen profitiert als Deutschland

Die Zusage zu schweigen wurde eingehalten. Mit einem zweiten Versprechen - die Nato-Partner würden in den "weiteren Prozess eng eingebunden" - klappte es dagegen weniger gut. Als Trump im Oktober nach einem Wahlkampftermin in Nevada das Ende des INF verkündete, erfuhren die Deutschen dies von den Nachrichtenagenturen. Allerdings erging es wohl selbst seinen eigenen Leuten in Washington nicht viel besser. Davon geht man jedenfalls in Berlin aus. Seit den Worten aus Nevada mobilisiert die deutsche Diplomatie ihre Ressourcen; es gilt zu retten, was zu retten ist. Dabei ist Deutschland nicht einmal Vertragspartner des INF, er gilt nur für die USA und Russland, Kasachstan, die Ukraine und Weißrussland. Aber kein Land hat stärker von dem Abkommen profitiert als Deutschland. Im Kanzleramt und in den Ressorts Außen- und Verteidigung wird deshalb nach Wegen gesucht, den Vertrag doch noch zu bewahren. Es ist eine Gratwanderung, vor allem für den SPD-Außenminister Heiko Maas. Neun ehemalige SPD-Vorsitzende haben in einem öffentlichen Appell darauf gedrungen, ein neues nukleares Wettrüsten zu verhindern.

Andererseits gibt es in seinem Amt auch ein gewisses Verständnis für die jetzige US-Entscheidung. Nach langem Zögern präsentierten die USA im Kreis der Nato ihre Erkenntnisse. Zwar sind es Indizien, keine zwingenden Beweise, doch verfehlten sie ihre Wirkung im Kreis der Nato-Staaten nicht. Schon im Dezember forderte der Nato-Rat Russland zur Kooperation auf. Die Alliierten hätten ein russisches Raketensystem "identifiziert", das "ernsthafte Sorgen" auslöse. Russland sprach von "Fake News" und ließ kein Entgegenkommen erkennen. In der Bundesregierung hält man die US-Vorwürfe durchaus für stichhaltig. So spricht Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen von "erheblichen Zweifeln" an der russischen Vertragstreue. Zudem ist die Kritik an Russland bereits alt, schon Trumps Vorgänger Barack Obama machte sie 2014 öffentlich. Im Auswärtigen Amt ist man davon überzeugt, dass auch ein demokratischer Präsident sich für den Ausstieg entschieden hätte.

Noch ist auf die Ankündigung Trumps nichts gefolgt, die US-Regierung hat den INF-Vertrag bisher weder formal suspendiert noch gekündigt. Einige Hoffnung richtete sich auf das kommende Wochenende, Trump und der russische Präsident Wladimir Putin wollten eigentlich bei einem Treffen in Paris die INF-Krise debattieren. Jetzt sagt Trump, er habe keine Zeit. Vermutlich werde man erst Ende des Monats am Rande des G-20-Treffens sprechen. Manches spricht dafür, dass weder den Amerikanern noch den Russen so viel an dem Vertrag liegt wie den Deutschen. Beide fühlen sich durch das Abkommen eingeengt, vor allem gegenüber den Chinesen. Bereits 2008 versuchten beide Staaten bei den Vereinten Nationen, den INF zu internationalisieren. Und ernteten nur ein Schulterzucken. In ihrer Kritik an dem Vertrag klingen sie auffallend ähnlich: "Praktisch alle unsere Nachbarn entwickeln solche Waffen," sagt Putin. "Es gibt da draußen eine neue strategische Wirklichkeit," sekundiert Trumps Nationaler Sicherheitsberater John Bolton.

In den deutschen Überlegungen geht es nun darum, wie man den 2008 gescheiterten Vorstoß wiederbeleben könnte. Im Auswärtigen Amt wurden die Optionen bereits durchgespielt: Den Russen die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen jenseits des Ural zu erlauben, wurde verworfen. Zu schnell ließen sich solche Waffensysteme wieder nach Westen verlegen. Zudem würde man die Verbündeten in Asien damit brüskieren. Stattdessen soll versucht werden, die Chinesen zu Verhandlungen zu bewegen. Mehr als Hälfte ihrer Raketen fällt unter die Reichweite des INF-Vertrages. Maas reist an diesem Wochenende nach Peking. Er wolle dort für größere Transparenz und Rüstungskontrolle werben, kündigte Maas am Donnerstag im Bundestag an. "Dort ist es bitter notwendig", sagte er. Wirklich aussichtsreich scheint dies allerdings nicht zu sein, China hat bisher wenig Interesse an solchen Diskussionen gezeigt - und sieht vor allem die nuklearen Großmächte Russland und die USA in der Pflicht abzurüsten.

In der Bundesregierung befürchtet man eine Aufrüstung wie in den Achtzigern

Man müsse sich auch auf das Schlimmste einstellen, heißt es inzwischen in der Bundesregierung. Wie dies aussehen würde hat das Auswärtige Amt - kurz bevor Botschafter Wittig sein Kabel aus Washington schickte - schon einmal in einer internen Analyse zu Papier gebracht. Mit dem Ende des INF-Vertrages, einer Kündigung des Iran-Abkommens und der womöglich ausbleibenden Verlängerung des sogenannten New Start-Abkommens, das die Anzahl der strategischen Waffen begrenzt, drohe ein "Worst Case-Szenario." Ein "völliger Zusammenbruch der Rüstungskontrollarchitektur mit einhergehendem signifikantem Sicherheitsverlust."

Die Folge könnte, befürchtet man in der Bundesregierung, eine Wiederauflage des Wettrüstens sein, wie Europa es in den 1980-er Jahren erlebt hat. Anders als Deutschland, wo immer wieder der Abzug der auf dem Fliegerhorst in Büchel stationierten Atomwaffen gefordert wird, ist zu erwarten, dass etwa Polen die Stationierung nuklearer Sprengköpfe willkommen heißen würde - womit die Nato-Russland-Grundakte obsolet wäre. Bei den Regierungskonsultationen kürzlich in Warschau kam die deutsche Seite denn auch auf den INF-Vertrag zu sprechen. Verlässliche Verbündete für die Rettung des Dokuments fand sie bei den polnischen Gastgebern eher nicht.

Am Donnerstag forderte der Bundestag die Regierung auf, "sich der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens auf dem europäischen Kontinent aktiv entgegenzustellen". Er habe, rapportierte Maas, sowohl mit seinem russischen als auch mit seinem US-Kollegen gesprochen; sein Staatssekretär sei in der Sache gerade in Washington. Ziel sei es nun, durch Transparenz "längst verloren gegangenes gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen." Geradezu nostalgisch erinnerte Maas an Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, die Väter des INF-Vertrages. Beide hätten noch gewusst, dass "Verständigung in Zeiten extremer Konfrontation" möglich sei.

© SZ vom 09.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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