Hessen-SPD:Verzweifelte Suche nach der Reißleine

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Notwehrreaktion nach dem Verrat: In der hessischen SPD gibt es offenbar aus Angst vor Neuwahlen Bestrebungen für eine große Koalition.

Christoph Hickmann

In der hessischen SPD gibt es nach der gescheiterten Regierungsübernahme ernsthafte Überlegungen, doch noch mit der CDU über die Bildung einer großen Koalition zu sprechen.

Neuwahl, große Koalition, Minderheitsregierung: In Hessen sind derzeit alle Möglichkeiten offen. (Foto: Foto: Reuters)

Der stellvertretende Vorsitzende des SPD-Bezirks Hessen-Nord, Norbert Schüren, sagte der Süddeutschen Zeitung, die große Koalition sei zwar "nicht wahrscheinlich, aber als Notwehrreaktion nach dem Verrat denkbar". Schüren gehört zum linken Flügel der Landespartei.

Sie "wäre der Versuch, dem Land eine stabile Mehrheit zu geben und der SPD eine Reißleine zuzuwerfen", sagte er. "Die Alternativen wären eine Regierung, die gegen uns gebildet wird, oder eine Neuwahl, nach der die SPD sicherlich nicht die Alleinherrschaft übernehmen würde."

Mit dem Szenario einer Regierung ohne die SPD bezog er sich auf den Verdacht, die Abgeordneten Tesch, Everts, Metzger und Walter könnten eine schwarz-gelbe Regierung stützen. Sie hatten am Montag erklärt, Hessens SPD-Chefin Andrea Ypsilanti nicht zur Ministerpräsidentin einer rot-grünen Minderheitsregierung zu wählen. Ihre Landtagsmandate hatten sie behalten. Die Abgeordneten sagten jedoch später der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sie würden "keinen von CDU und FDP gestützten Ministerpräsidenten wählen".

Der Vorstand des SPD-Bezirks Hessen-Süd forderte sie am Mittwochabend auf, ihre Mandate niederzulegen. Sollte Silke Tesch nicht ihre Parteimitgliedschaft aufgeben, will der Bezirksvorstand Hessen-Nord in der nächsten Woche eine sogenannte Sofortmaßnahme einleiten, die das Ruhen aller Rechte aus der Mitgliedschaft zur Folge hätte. Es soll dann auch ein Parteiordnungsverfahren geben.

Das Szenario einer großen Koalition wird bereits bis in die Parteispitze hinein diskutiert, wenn auch nicht für sehr wahrscheinlich gehalten. Es hat auch erste Kontakte zwischen den Parteien gegeben. In der SPD wird befürchtet, dass sie im Fall einer Neuwahl mit einer verheerenden Niederlage zu rechnen hätte.

Gegen eine große Koalition spricht aber die Einschätzung, der Basis den Schwenk kaum vermitteln zu können. Zudem gibt es in der CDU dem Vernehmen nach immensen Druck in Richtung Neuwahl, weshalb nach der Einschätzung in beiden Parteien kaum noch Zeit bleibt. Nach dem Grünen-Landesvorstand und der FDP sprach sich auch der Linken-Landesvorstand für Neuwahlen aus.

Die CDU erhöhte öffentlich den Druck. Der geschäftsführende Innenminister Volker Bouffier sagte der Deutschen Presse-Agentur, die SPD müsse sich schnell entscheiden, ob sie ernsthafte Gespräche oder die Neuwahl wolle: "Das Fenster ist schmal." Sie müsse auch bereit sein, "Positionen zur Disposition zu stellen". Dies fange bei Ypsilanti an.

Lesen Sie auf Seite 2, was der SPD-Landtagsabgeordnete Michael Paris über ein Gespräch mit dem Abweichler Jürgen Walter berichtet.

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Der Frankfurter SPD-Landtagsabgeordnete Michael Paris sagte, dass sich Jürgen Walter bereits vor dem SPD-Parteitag am vergangenen Samstag über einen möglichen Austritt aus der Fraktion geäußert habe. Paris sagte auf SZ-Anfrage, er habe Walter "drei oder vier Tage" vor dem Landesparteitag im Landtag getroffen.

Dieser habe die Überlegung geäußert, "dass man, wenn man freier Abgeordneter wäre, mit fünf Leuten eine Fraktion bilden könnte". Walter habe darauf verwiesen, dass eine Fraktion auch Posten besetzen könne, etwa den eines Parlamentarischen Geschäftsführers oder eines Vizepräsidenten. Paris sagte, er habe sich Walters Ausführungen "mehr oder weniger amüsiert angehört, aber nicht im Traum daran gedacht, dass so etwas in die Realität umgesetzt würde".

"Ich habe abgelehnt"

Walter hatte am Montag gesagt, die Entscheidung, Ypsilanti die Gefolgschaft zu verweigern, sei erst am Wochenende gefallen - nach dem Parteitag. Der Version der vier Abgeordneten zufolge haben sich zunächst Everts und Tesch beraten, dann seien sie auf Metzger und Walter zugegangen. Paris sagte, Walter habe keine weiteren Namen genannt und habe "auch nicht konkret gefragt: Machst du da mit?"

Im Nachhinein aber "kann das natürlich der Test gewesen sein, ob ich darauf einsteige". Es sei in dem Gespräch auch um "unsere Haltung zum Koalitionsvertrag" gegangen. Konkret sei Walter erst am Montagmorgen geworden, als er Paris gegen elf Uhr angerufen und ihm von der bevorstehenden Pressekonferenz der vier Abgeordneten erzählt habe. "Er hat mich eingeladen, daran mitzuwirken", sagte Paris. "Ich habe abgelehnt, weil es aus meiner Sicht noch Moral in der Politik geben muss."

© SZ vom 06.11.2008/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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