Hans-Jochen Vogel:Der geläuterte Pedant

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Ein ehrgeiziger OB, ein selbstloser SPD-Vorsitzender und eine moralische Instanz: Gelassen blickt der nun 80-Jährige zurück - und nach vorn.

Heribert Prantl

Man fährt östlich aus München heraus, Richtung Eichenried und Moosinning, lässt den Flughafen Franz Josef Strauß links liegen, braust vorbei an Langengeisling und Wolferding, an Vilsbiburg und Binabiburg, an Frauenhaselbach und Scherzthambach, fährt bei Eggenfelden nicht Richtung Wurmannsquick, sondern nach Pfarrkirchen, Brambach und Hirschbach und kommt, wenn man ein Navigationssystem hat oder sich in Niederbayern gut auskennt, nach Bad Birnbach.

Schneidend, warnend, klagend und werbend: Hans-Jochen Vogel, hier 1999 bei seiner Parteitags-Rede. (Foto: Foto: dpa)

Dort angelangt ist man immer noch nicht so weit, dass man mit Hans-Jochen Vogel einen Tag bei Gesprächen über Gott, die Welt und die Sozialdemokratische Partei zubringen könnte.

Dann verlässt einen nämlich das Navigationssystem und man ist darauf angewiesen, dass man die Sprache der Einheimischen versteht und nach dem Weg zu Herrn Doktor Vogel fragen kann.

Ein paar Kilometer rumpelt man durch Wiesen und Auen, es wird einsam; und auf einmal steht man vor einem Obstgarten und einem gepflegten alten Bauernhaus, in dem er seit Jahrzehnten seine Freizeit verbringt.

Hierher hat in den Jahren des RAF-Terrors der Personenschutz den Bundesjustizminister Vogel begleitet, hier hat er sich von Niederlagen erholt; und das waren nicht wenige. Wir sind in der Toskana des Hans-Jochen Vogel, also in Niederbayern.

Vom Pferd und vom Ochs

Vogels Vorfahren kamen im 18. Jahrhundert aus Italien; im ersten Stock des Bauernhäusls, im Arbeitszimmer mit den knarzenden Bohlen, hängt eine schöne kleine Ahnengalerie, darunter Alois von Brinz, ein geadelter Urgroßvater mütterlicherseits: Der war ein berühmter Pandektist, Lehrer des römischen Rechts zu Erlangen und Prag, Mitglied des böhmischen Landtags.

Der passt so zu Niederbayern, wie der Reformer Graf Montgelas oder der katholische Erneuerer Johann Michael Sailer - oder eben Hans-Jochen Vogel hierher passen.

In Bayern gedeiht auch Aufklärung. Einst, im Münchner Oberbürgermeister-Wahlkampf von 1960, hat Josef Müller (CSU), genannt Ochsen-Sepp, das Bayerische in Vogel in Zweifel gestellt und unter Hinweis auf dessen Geburtsort Göttingen (der Vater war dort Professor für Tierzucht) in Umlauf gebracht, es handele sich um einen Preußen.

Vogel konterte mit der Herkunft der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern und dem Satz: "Wenn ein Pferd im Kuhstall geboren wird, ist es dennoch ein Pferd und kein Ochs." Ein Satz, in dem sich das Niederbayerische, die Juristerei und neckische Boshaftigkeit vereinten.

4444 fette Tage

Niederbayern: Hans-Jochen Vogels jüngere Genossen kommen mit der echten Toskana besser zu Rande als mit diesem tiefschwarzen Land, das die CSU in politischer Erbpacht bewirtschaftet. Es ist dies ein Landstrich, in dem man ein Missionar, in dem man ein Spezialist für aussichtlose Lagen sein muss, wenn man als Sozialdemokrat dort lebt.

Hier ist ein Hans-Jochen Vogel also am richtigen Ort: Dem Aussichtslosen hat er sich in seinem politischen Leben oft genug gestellt. Nach seinen zwölf fetten Jahren als Münchner Oberbürgermeister von 1960 bis 1972 (4444 Tage waren es, hat jemand ausgerechnet) kamen nämlich 22 oft ziemlich magere, als Landes- und Bundespolitiker:

Als Chef der ewig schwächelnden bayerischen SPD, als kurzzeitiger Regierender Bürgermeister Berlins, als Kanzlerkandidat 1983, als langjähriger Oppositionschef im Bundestag und als SPD-Vorsitzender, Nachfolger Willy Brandts.

Bürokratische Genialität

Immer wenn es schwierig wurde für die SPD, immer wenn sie sich in ziemlich aussichtsloser Lage respektabel schlagen musste, rief sie nach Hans-Jochen Vogel - und der schlug sich auch immer respektabel, unter Aufbietung seiner altväterlichen Tugenden, die den Genossen manchmal auch ein wenig unheimlich waren.

"Um keine der Aufgaben, die ich nach meiner Münchner Zeit zu bewältigen hatte, habe ich mich beworben oder gar darum mit anderen konkurriert. Man war froh, dass ich dazu bereit war." In diesem Satz äußert sich der spezifische Stolz Hans-Jochen Vogels (oder ist es ein kleiner Dünkel?) - nie intrigiert zu haben, nie egozentrisch gewesen zu sein.

Oskar Lafontaine, über den Vogel redet wie über einen missratenen Sohn, wirft er solche Egozentrik vor: "Ein Amt, das vor ihm Männer wie August Bebel, Kurt Schumacher oder Willy Brandt inne hatten, wirft man nicht weg wie ein schmutziges Handtuch."

Vogel schrieb dazu im Tagesspiegel eine bittere Kolumne. Die hat er ihm geschickt, verbunden mit einem Gesprächsangebot. Lafontaine reagierte nicht.

Man könnte den Eindruck haben, so etwas schmerze Vogel mehr als seine Niederlagen: Als Regierender Bürgermeister in Berlin unterlag Vogel gegen Richard von Weizsäcker, als Kanzlerkandidat unterlag er Helmut Kohl.

Vogel bleibt unter normalen Menschen, ob im Flugzeug oder im Münchner Löwenbräukeller. (Foto: Foto: ddp)

"Trotz alledem: Weiterarbeiten und nicht verzweifeln", stand auf einem Zettel gekrakelt, den Herbert Wehner ihm einmal zugesteckt hat. Vogel hat ihn lange in seiner Brieftasche mit sich herumgetragen.

Weiterarbeiten und nicht verzweifeln: Das passt zur RAF-Zeit, in der Bundesjustizminister Vogel in den dramatischen Sitzungen des Krisenstabes nach der Entführung von Hanns-Martin Schleyer die Sache des Rechtsstaats vertrat.

Es gab damals die Idee, den Artikel 102 Grundgesetz, ("Die Todesstrafe ist abgeschafft") durch Einführung einer bedingten Todesstrafe zu modifizieren, die im Falle terroristischer Morde zwar zu verhängen, aber nur dann zu vollstrecken sei, wenn die Freipressung eines solchermaßen Verurteilten versucht werde.

So ein Plan hatte bei einem Justizminister Vogel keine Chance. Vogel steht aber nach wie vor zur damaligen Kaskade von Sicherheitsgesetzen; sein Ex-Bundesinnenministerkollege Gerhart Baum von der FDP ist da inzwischen zurückhaltender und selbstkritischer.

Erst die Kür, dann die Pflicht

Andere Spitzenpolitiker begannen ihre Laufbahn mit den Jahren der Fron und Pflicht, dann kam die Kür. Bei Vogel war es umgekehrt: Bei ihm kam erst die Kür in München, und dann kam die Pflicht und Fron in Bonn und Berlin.

In der Münchner Zeit war er ein junger Hans im Glück, mit nur 34 Jahren war er zum damals jüngsten OB Europas gewählt worden, der die U-, die S-Bahn und die Fußgängerzone bauen ließ und die Olympischen Spiele in die Stadt holte.

Als er 1972 nach Bonn ging, kannten ihn 91 Prozent aller Bundesdeutschen, 95 Prozent aller Bayern und 96 Prozent aller Münchner. Er war eben einer, der sowohl tüchtig arbeiten, sich aber auch tüchtig in Szene setzen konnte.

Was eigentlich dringlicher sei, fragte er in den Jahren des US-Apollo-Programms: "Drei Menschen 760.000 Kilometer weit pünktlich hin und zurück auf den Mond zu bringen - oder 760.000 Menschen zur Hauptverkehrszeit hin und zurück in einer Großstadt?" Vogel war damals der Münchner Apollo.

Kokettieren mit der Hülle

Die Bonner und Berliner Jahre waren dann, wie Willy Brandt über Vogels Arbeit sagte, "eine Summe unverdrossenen sich Abrackerns". Brandt hatte den von den Kämpfen mit den Münchner Parteilinken entnervten "Karajan der Kommunalpolitik" (so die Weltwoche) als Wohnungsbauminister nach Bonn geholt.

Der arbeitete mit bürokratischer Genialität - und mit elitärem Anspruch. Als Bundesjustizminister setzte er so die Reform des Ehescheidungsrechts durch und die Novellierung des Abtreibungsparagrafen 218.

Vogels Pedanterie ist nun im Alter nicht mehr so pedantisch, er hat gelernt, damit zu kokettieren.

Als er eines seiner Bücher "Die Klarsichthülle" nennen wollte ("nur mit Büroklammern, schiebt sich doch alles ineinander, und man findet nichts mehr, furchtbar!"), hat sein Verlag nicht mitgemacht und es stattdessen "Nachsichten" genannt.

Dabei war Vogel in seiner großen Zeit nicht besonders nachsichtig: Von seinem Urgroßvater, dem Lehrer des römischen Rechts, hat er wohl die juristisch-pedantische Lust geerbt, mit der er mitunter gestandene Abteilungsleiter und Staatssekretäre zum Weinen brachte, weil sie seinem Tempo, seiner Arbeitswut und seinem Wissensdurst nicht gewachsen waren.

Bringt man das Gespräch heute darauf, tut er gern so, als sei das alles (und auch das Feldbett, das er sich in seiner Berliner Bürgermeister-Zeit neben dem Büro aufstellen ließ), nur gut erfunden, und er ruft dann schnell: "Liserl, bringst uns bitte noch einen Kaffee?"

Liserl ist seine Frau - und er geht mit ihr so liebreizend um, dass jeder, was die eigene Gefährtin betrifft, auf der Stelle ein schlechtes Gewissen bekommt.

Seine häusliche Stimme klingt dann ganz anders als sie seinerzeit geklungen hatte, wenn sie zur politischen Rede ansetzte: Dann nämlich funktionierte Hans-Jochen Vogel so ähnlich wie eine Orgel.

Da war es, als ob erst der Blasebalg sich mit Luft füllte, und dann strömte es in satten, vollen Tönen aus ihm heraus, dann dröhnte und brauste es, dann konnte er auch schneidend, warnend, klagend und werbend sein: So hat er seinerzeit, auf dem Asylsonderparteitag der SPD in Bonn sich selbst und seine Partei entgegen seiner langjährigen Überzeugung von der Richtigkeit einer Änderung des Grundgesetzes überzeugt.

Ein Jahr vorher hatte er noch, nach den ausländerfeindlichen Krawallen in Rostock, einen warnenden Brief an Björn Engholm geschrieben, seinen Nachfolger als Parteichef: "Der verhängnisvolle Eindruck entsteht, es muss nur jemand Molotow-Cocktails schmeißen, und schon bewegt sich die Politik."

Vogel hat später oft erklären müssen, warum er dann zuletzt gleichwohl für die Grundgesetzänderung geworben habe. Er wollte, sagt er, "das Auseinanderbrechen der SPD verhindern". Diese Begründung hätte auch von Herbert Wehner stammen können.

In seiner Zweitheimat, der SPD-Brache Niederbayern, hat Hans-Jochen Vogel übrigens einen wackeren Vorgänger: Ignaz Auer.

Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete seit 1877 war einer der Kämpfer gegen Bismarcks Sozialistengesetze, er stammte aus Dommelstadel bei Passau. Von ihm stammt ein bemerkenswerter Satz, der zu Vogel passt.

Als der sozialistische Theoretiker Eduard Bernstein vor mehr als hundert Jahren wieder einmal über "soziale Gerechtigkeit" philosophierte, belehrte ihn Auer so: "Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man."

"Das steht mir nicht zu"

So etwas tut man. Und so etwas tut man nicht: Das ist die Formel, an die sich Vogel hält, wenn es um den Anstand in der Politik geht, um Nebeneinkünfte von Politikern und um die Maßlosigkeit von Managern.

Dienstwagenaffäre, Putzfrauenaffäre? Bei ihm undenkbar. Als Notkandidat für das Bürgermeisteramt 1981 nach Berlin gerufen, ignorierte er am Flughafen den Dienstwagen, marschierte an den verblüfften Genossen vorbei, sprach etwas ruppig: "Entschuldigung! Das steht mir noch nicht zu!", und winkte einem Taxi.

Sein Leben lang ist Vogel nie in der Business-Klasse geflogen, sondern, wie normale Menschen, in der Economy, Holzklasse. "Selbstgefälligkeit in der Bescheidenheit" attestierte einmal ein politischer Porträtist in der FAZ dem damaligen Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel.

"Soll man Vernünftiges unterlassen, weil es als Bescheidenheit aufgefasst werden könnte?", sagt Vogel darauf.

Er ist ein christkatholischer Mensch, stolz darauf, dass sich unter seine Ägide das Verhältnis zwischen Kirche und SPD sehr gebessert hat: Probleme mit innerkirchlichen Positionen hat er gleichwohl, vor allem mit der Lage wiederverheirateter Geschiedener - die im Gottesdienst die Kommunion nicht empfangen dürfen. Das trifft ihn schmerzlich auch selbst.

Über die "Verantwortung vor dem Herrgott" spricht Vogel in letzter Zeit oft. Denkt der große Jurist Vogel an die Große Göttliche Strafkammer unter Vorsitz von Gottvater?

"Dass man im Jenseits, wenn man die enge Pforte durchschritten hat, noch einmal in ein sehr ernstes Gespräch gezogen wird, das glaube ich schon."

Aber "Furcht im eigentlichen Sinn" habe er davor nicht. Vielleicht fällt ihm ja dann so ein entwaffnender Spruch ein wie der mit dem Ochs, damals, im Wahlkampf von 1960.

Oder Hans-Jochen Vogel sagt, nach alter Gewohnheit, auch angesichts der Ewigkeit: Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.

© SZ vom 3.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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