Hamburger Krawalle:Rätselhafter Hinterhalt im Wohnzimmer

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Immer noch ist unklar, warum es zu den Randalen im Schanzenviertel gekommen ist. Sollte der Polizei eine Falle gestellt werden? Der Innenausschuss wartet auf Beweise.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke, Hamburg

Krawallnacht in Hamburg: Ein Spezialeinsatzkommando der Polizei im Einsatz. (Foto: Alexander Koerner/Getty Images)

Stimmten die Befürchtungen der Polizei? Wartete wirklich ein "bewaffneter Hinterhalt" auf sie im Hamburger Schanzenviertel, eine potenziell tödliche Falle? Zu den bemerkenswertesten Umständen in der Nachbetrachtung der G-20-Krawalle am vorvergangenen Wochenende zählt, dass bis jetzt unklar ist, was tatsächlich auf den Dächern dort geschah, welches Ausmaß die Gewalt durch Autonome also wirklich annahm.

Die Polizeiführung hat davon gesprochen, insgesamt 36 Personen hätten sich auf Dächern verschanzt mit einer Munition aus hinaufgeschleppten Gehwegplatten und Molotowcocktails. Einsatzleiter Hartmut Dudde hat der Presse zum Beleg hierfür ein grobkörniges Wärmebild-Video vorgezeigt, das aus einem Polizeihubschrauber aufgenommen wurde und den Abwurf eines Molotowcocktails zeigen soll. Inzwischen wird auch der Verdacht geäußert, dass es sich dabei um eine Bengalo-Fackel oder einen Böller gehandelt haben könnte. Ein Polizeiführer, der zur fraglichen Zeit mit seiner Einheit auf der Straße war, erinnert sich nicht daran, dass ein Molotowcocktail herabgefallen, zersprungen und nicht in Flammen aufgegangen wäre. Spuren hiervon seien am Boden nicht gesichert worden. Andererseits: "Da war alles andere wichtiger als Spurensicherung."

Der Polizeieinsatz ist in den vergangenen Tagen aufgearbeitet worden, viele der Beamten wurden noch einmal befragt, Einsatzberichte ausgewertet. Seit Mittwoch müssen der Innensenator, der Polizeipräsident, der Einsatzleiter und der verantwortliche Polizeiführer für das Schanzenviertel auch den Hamburger Abgeordneten Rede und Antwort stehen. Aber viele Antworten suchen sie selbst noch.

Der Freitagabend des G-20-Gipfels begann mit einer Fehleinschätzung, wie die Polizei inzwischen erkannt hat. Die Polizei dachte, dass die Autonomen nicht ihr eigenes Wohnzimmer, die Schanze, verwüsten würden. Die Gewalt würde der Polizei gelten - nicht dem Viertel. Keine Polizeipräsenz, keine Gewalt - so dachten die Einsatzstrategen. Deshalb hatte die Polizeiführung bewusst keine starken Kräfte in die Schanze geschickt. Man wollte den Eindruck vermeiden, dass die Staatsmacht das Szeneviertel besetzt.

Mehrere Polizei-Einheiten hatten Bedenken, in das Schanzenviertel einzurücken

Inzwischen steht fest, dass gleich mehrere Einheiten gegenüber Einsatzleiter Dudde Bedenken geäußert und gedrängt hatten, spät am Abend von dieser Strategie abzurücken und doch noch ins Schanzenviertel einzurücken. Dass gegen Duddes Anweisung formell protestiert wurde, bestreitet die Hamburger Polizei, obwohl eine der bayerischen Einheiten sogar das Innenministerium in München informierte. Kurz nach 22 Uhr hatte Dudde angeordnet, dass die Polizei massiv ins Viertel hineingehen sollte. Plünderungen hatten begonnen, Bewohner der Schanze alarmierten die Polizei, Feuer brannten.

Bedenken gegen das Einrücken hatten auch die sogenannten Aufklärer, die seit Stunden verdeckt in Zivil in der Schanze unterwegs waren. Sie befürchteten, dass die Randalierer genau dies geplant hätten: Mit Plünderungen würden sie die Polizei ins Viertel hineinlocken, in eine Falle. Nach 22 Uhr verlangten die Aufklärer allesamt, aus der Schanze abgezogen zu werden, der Einsatz erschien ihnen zu riskant.

Dudde entschied deshalb, nicht die normalen Einheiten in die Schanze zu schicken, sondern zunächst Spezialeinheiten anzufordern. Der Einsatzabschnitt "Intervention" wurde alarmiert. Das dauerte, denn diese Spezialkräfte waren, teils auf Motorrädern oder gar Fahrrädern, über die ganze Stadt verteilt. Ihr Auftrag war eigentlich die Terrorabwehr. Sie waren dafür abgestellt, Attentäter binnen kürzester Zeit unschädlich zu machen. Eine Mission, die sich für manche auch in Jeans und T-Shirt erledigen ließ. Als der Auftrag kam, stattdessen in der Schanze gegen Steinewerfer und Plünderer vorzugehen, mussten die Spezialisten zunächst ihre schwere Ausrüstung holen und sich umziehen. So verging Zeit.

Als schließlich gegen 23.30 Uhr das schwer bewaffnete Spezialeinsatzkommando (SEK) das Haus mit der Adresse Schulterblatt 1 erreichte und die fünf Stockwerke hinaufstürmte, brachen die Beamten Türen auf und warfen sogenannte Irritationssprengkörper, die sonst nur gegen Terroristen oder Entführer zum Einsatz kommen. In Hamburg wird zwar betont: Man habe ihnen eine klare Anweisung erteilt. Sie sollten auf den Dächern alle Beweismittel sichern. Aber bisher, so heißt es bei der Polizei, habe man weder einen Bericht über die Sicherstellung von Gehwegplatten oder Molotowcocktails gefunden noch auch nur ein Bild, das die vermeintlichen Brandsätze oder Reste von Wurfgeschossen zeigt. Dabei hatten die Beamten vor der Sondersitzung des Innenausschusses genau danach intensiv gesucht. Die Innenbehörde hatte mehrmals danach gefragt. Die Suche dauere noch an, es gebe ganze Waschkörbe mit Einsatzberichten, heißt es bei der Polizei, es dauere einfach.

Der Einsatzabschnitt "Intervention", so ergibt sich aus internen Unterlagen, sah sich für Spurensicherung gar nicht zuständig. Nicht ausgeschlossen ist, dass die entsprechenden Beweise noch auftauchen. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass es Beweise für Brandsätze und andere gehortete Waffen am Ende nicht gibt und auf den Dächern der Schanze viel weniger Ausnahmezustand herrschte, als die Polizei annahm. Dies würde nicht unbedingt eine Verfehlung der Polizei belegen, die vor einer unübersichtlichen Lage stand - aber im Rückblick ein deutlich weniger dramatisches Licht werfen auf die Gewalt aus den Reihen der Autonomen an jenem Abend.

Oder haben die Randalierer Beweise beiseiteschaffen können? Nur wohin? Und so schnell? Bei der Hamburger Polizei heißt es, die Autonomen hätten eine "effektive Gegenaufklärung" betrieben, schnell habe sich herumgesprochen, dass Sonderkommandos zur Schanze vorgerückt seien.

© SZ vom 20.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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