Halle-Prozess:"Sie sind ein Menschenfeind"

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Der Angeklagte Stephan B. (Mitte) nimmt am Tag seiner Verurteilung im Landgericht Magdeburg neben seinem Verteidiger Platz. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Als die Vorsitzende Richterin das Urteil - lebenslange Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung - gegen den rechtsextremen Attentäter von Halle begründet, zerpflückt sie dessen Selbstbild. Und würdigt seine Opfer.

Von Antonie Rietzschel, Magdeburg

Ursula Mertens ist es gewohnt, Stephan B. immer im Auge zu behalten. Die Vorsitzende Richterin im Prozess gegen den Attentäter von Halle kennt sein Grinsen, das Gekicher, mit dem er in der Vergangenheit im Saal C24 des Landgerichts Magdeburg Zeugen, Anwälte und Ermittler verhöhnte. Mit schneidender Stimme forderte sie ihn in solchen Momenten auf, aufzuhören. B. gehorchte.

Als Mertens an diesem Montagvormittag an die Richterbank tritt, um das Urteil gegen den Mann zu verkünden, der einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verübte und zwei Menschen tötete, sieht sie Stephan B. in dünner schwarzer Jacke vor sich stehen. Die Staatsschutzkammer hat ihn für schuldig befunden, unter anderem wegen des zweifachen Mordes, des versuchten Mordes in mehr als 60 Fällen und der Volksverhetzung. Lebenslange Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung.

Stephan B. zeigt keine Regung, stumm macht er sich Notizen, als Mertens in die Urteilsbegründung einsteigt. An deren Anfang stellt die Richterin jedoch keine juristisch-trockene Bewertung von Tat und Motiv, wie es häufig üblich ist. Mertens erzählt die Geschichte von Jana Lange.

Der reine Zufall ließ sie zum Opfer von Stephan B. werden. Als der am 9. Oktober 2019 loszog, wollte er jüdische Gläubige töten, die sich zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, in der Synagoge in Halle versammelt hatten. Doch er scheiterte an der bruchsicheren Tür des Gotteshauses.

Auf der Straße begegnete er Jana Lange, die sich auf dem Heimweg befand. Er schoss auf sie, und als sie sterbend auf der Straße lag, beschimpfte er die Frau auch noch. Das konnte man auf dem Video sehen und hören, das B. gedreht und live ins Internet gestreamt hatte. Im Prozess erfuhr man nicht viel über die 40-Jährige. Ihre Eltern hatten darauf verzichtet, sich der Nebenklage anzuschließen. Sie traten also auch nicht als Zeugen auf, trotz mehrfacher Nachfrage der Richterin. "Frau Lange liebte Musik und war Mitglied in einem Chor", sagt Mertens. Einem Chor, den sich Mertens nach dem Anschlag selbst angehört hat. Ihre Erzählung zeigt einmal mehr, wie besonders das Gericht mit diesem Verfahren umgegangen ist.

Gegen alles, was ihm fremd war

Stephan B. hätte den Prozess gern als "zweiten Waffengang" gestaltet - so beschrieb es der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf. Als die Vorsitzende Richterin dem Angeklagten Ende Juli schließlich das Wort erteilte, klang B. wie ein Mann, der sich im Krieg befindet. Gegen Juden, Araber, alles, was ihm fremd war. Er sprach von einer Invasion, gegen die es sich zu rüsten gelte.

Mertens holte ihn aus dieser, seiner Welt zurück in die Realität. Sie fragte ihn, wie viele Geflüchtete denn in sein Heimatdorf gekommen seien. Woher er das denn wissen solle, antwortete der Angeklagte patzig. Mertens gab dem Angeklagten Raum. Anders geht es nicht, wenn ein Gericht eine Tat juristisch aufarbeiten und die Schwere der Strafe bemessen soll. Aber B. musste sich vom ersten Tag an in den von der Richterin gesteckten Grenzen bewegen. Wenn er sie überschritt, indem er den Holocaust leugnete, ging sie dazwischen.

Viel Raum bekamen aber auch die 45 Nebenklägerinnen und Nebenkläger. Es sind ihre Erzählungen, ihre Schicksale, die Mertens in der Urteilsbegründung würdigt. Sie ruft ihre Traumata ins Gedächtnis, lobt aber auch ihren Mut. So manche Geschichte macht sie zum Gradmesser für die gescheiterte Existenz des Angeklagten.

Stephan B. hatte keine Arbeit, keine Kollegen, keine Freunde, keine Partnerin. Jahrelang lebte er bei der Mutter in seinem alten Kinderzimmer. Im Internet suchte er nach vermeintlichen Schuldigen für sein Scheitern, verfing sich in der antisemitischen, rechtsextremen und frauenfeindlichen Welt von Imagebords - Plattformen, auf denen man anonym posten kann. Er, Stephan B., habe es nicht geschafft, sich ins Leben zurückzukämpfen, sagt Richterin Ursula Mertens.

Anders als sein zweites Todesopfer, Kevin Schwarze. Der junge Mann war körperlich und geistig beeinträchtigt, das Sorgenkind seiner Familie. Doch er machte die Förderschule, begann eine Malerlehre, fand Freunde bei seinem liebsten Fußballclub, dem Halleschen FC. Schwarze hatte in einem Döner-Imbiss nahe der Synagoge Mittagspause gemacht, als Stephan B. ihn tötete, weil er ihn für einen "Nahöstler" hielt. Kevin Schwarze habe erreicht, "was Sie in 27 Jahren nicht geschafft haben", sagte Mertens zu Stephan B.

Sie zeigt sein Unvermögen auf, er starrt sie an

Je länger Mertens redet, desto stärker beugt sich der Angeklagte weiter nach vorn, starrt die Richterin an, die ihm sein Unvermögen aufzeigt. Jetzt erzählt sie von zwei Nebenklägern, die ihr berichtet hätten, dass sie sich grämen, B. auf der Flucht nicht überwältigt zu haben. "Einen Kampf hätten Sie mit diesen Herren nicht gewonnen." So zerpflückt Mertens das Bild des Kriegers, das Stephan B. im Prozess von sich gezeichnet hatte, stellt aber auch dessen Überzeugungen heraus: "Sie sind antisemitisch, ausländerfeindlich, sie sind ein Menschenfeind. Sie haben absurde Ideen entwickelt."

Wie auch die Generalbundesanwaltschaft hält Mertens Stephan B. für einen Einzeltäter. Nebenklageanwälte hatten im Prozess gegen diese Einschätzung argumentiert, wiesen auf die Verbreitung antisemitischer und rechtsextremer Einstellung hin, die Entstehung entsprechender terroristischer Netzwerke. Mertens will den Begriff als juristische Formalie verstanden wissen. B. habe selbstverständlich Gleichgesinnte gesucht und Nachahmer motivieren wollen. Ihr sei auch bewusst, dass er Vorbilder hatte. Die Namen will Mertens nicht nennen. "Am besten ist es, wenn man diese Menschen mit Schweigen bedenkt."

Drei Stunden dauert die Urteilsverkündung, Mertens lässt sie immer wieder für Lüftungspausen unterbrechen. Als schließlich alles gesagt ist, bricht es aus Stephan B. heraus. Er wirft einen zusammengerollten Hefter in die Richtung der Nebenklageanwälte. Polizisten zerren an ihm. Stephan B. stemmt sich kurz dagegen. Gegen die Kraft der Beamten, vielleicht aber auch gegen die Angst, in Vergessenheit zu geraten - während Jana Lange, Kevin Schwarze und die anderen den Menschen in Erinnerung bleiben.

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