Grünen-Parteitag in Nürnberg:Das grüne Kamel

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Ökosozial statt neoliberal: In Nürnberg wollen die Grünen zeigen, dass sie anders sind als die FDP. Die Basis dürstet nach Utopie und Gerechtigkeit.

Heribert Prantl

"Wahrhaft lustig sieht es aus", so heißt es in Brehms Tierleben über die eigensinnigen und genügsamen Kamele, "wenn die ermatteten Tiere in die Nähe eines Brunnens gelangen. Sie heben dann die Köpfe hoch empor, schnüffeln mit halb zugekniffenen Augen in die Luft, legen die Ohren zurück und beginnen wie wild zu rennen". Der grünen Partei ergeht es beim Parteitag in Nürnberg wie dem erschöpften Kamel vor dem Brunnen.

Die Partei ist leer, sie hat ungeheueren Hunger und Durst, Sehnsucht nach neuen Visionen. (Foto: Foto: dpa)

Die Partei ist leer, sie hat ungeheueren Hunger und Durst, Sehnsucht nach neuen Visionen. Sie fühlt sich in ihrem Idealismus von ihrer Bundestagsfraktion nicht mehr verstanden und von ihrer Parteiführung nicht mehr vertreten. Die Zeit der rot-grünen Frustrationen steckt ihr noch in den Knochen, also die militärischen und die sozialpolitischen Zumutungen der Schröder-, Fischer- und Agenda-Zeit.

Für die Basis waren die Regierungsjahre Wüstenjahre, und sie hat sich noch nicht erholt. Das soll jetzt auf dem Parteitag in Nürnberg geschehen: Die grüne Partei will frisches Programm tanken, ganz schnell, ganz viel - so wie das Kamel; das kann in kürzester Zeit ungeheuer viel Flüssigkeit aufnehmen, angeblich 200 Liter in 15 Sekunden.

Wer die Anträge studiert, die den Parteitag prägen, der spürt die Sehnsucht nach Utopie und Gerechtigkeit: Sie zeigt sich vor allem im Antrag, ein voraussetzungsloses Grundeinkommen einzuführen: 420 Euro für jeden, unabhängig von den Vermögensverhältnissen. In diesem Antrag, der viel Zustimmung findet, macht sich viel Enttäuschung Luft, Enttäuschung über eine grüne Allerweltspolitik in Berlin: Man will endlich wieder spektakulär und Vorhut der Gesellschaft sein, so wie einstmals bei der Ökologie.

Es handelt sich aber beim Grundeinkommen weniger um eine soziale Grundsicherung denn um eine negative Einkommenssteuer; den Leuten, die etwas verdienen und Steuern zahlen müssen, sollen die 420 Euro von ihrer Steuerschuld abgezogen werden. Die Sozialpolitiker warnen daher: Mit Utopien werden die Leute, die mehr staatliche Hilfe brauchen, nicht satt; die Hartz-IV-Empfänger haben nichts davon, wenn die Grünen jetzt einem Grundeinkommen nachlaufen.

Der Antrag des Bundesvorstands, den die Sozialpolitiker noch sozial anreichern wollen, sieht daher (weniger spektakulär, aber hilfreicher) neben weiteren Hilfen für Bedürftige eine Erhöhung des Regelsatzes bei Hartz-IV-Empfängern von 347 auf 420 Euro vor; das ist der Betrag, den die Wohlfahrtsverbände als das "sozio-kulturelle Existenzminimum" berechnet haben.

Wenn die Delegierten dagegen stimmen und stattdessen für das Grundeinkommen plädieren, hätte der Vorstand schon wieder eine Niederlage kassiert. Er müsste sich dann fragen, ob er die Partei wirklich noch führt.

So oder so: Die Nürnberger Tagung markiert einen Abschied vom Neoliberalismus, welcher der Partei den Ruf eingetragen hat, eine grüne FDP zu ein. Das inoffizielle Motto des Parteitags lautet: Ökosozial statt neoliberal.

© SZ vom 24.11.2007/sekr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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