Grüne II:Reichstag statt Villa Reitzenstein

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Flucht nach vorn: Der ehemalige Grünen-Chef Cem Özdemir will Fraktionsvorsitzender werden. (Foto: Soeren Stache/dpa)

Cem Özdemir will in Berlin reüssieren. Einfach wird das nicht.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Man kann sich dieses Phänomen wie eine Welle vorstellen, die in Stuttgart losgetreten wurde. Sie ist Richtung Berlin gerollt, hat sich dort aufgetürmt, um über die Grünen hereinzubrechen. Es werden da jetzt ein paar Leute baden gehen.

Am Donnerstag hat Winfried Kretschmann angekündigt, auch weiter Ministerpräsident von Baden-Württemberg bleiben zu wollen. Von Spitzengrünen in Berlin kamen sogleich Glückwünsche. Nicht wenige Bundesgrüne aber machen in diesen Tagen den Eindruck, als könnten sie sich auch einen anderen Ausgang der Dinge vorstellen. Nicht, weil sie unbedingt wollen, dass Kretschmann seinen Amtssitz in der Villa Reitzenstein räumt. Wohl aber, weil sein Bleibenwollen heißt, dass in Stuttgart kein Platz frei wird für Cem Özdemir.

Der Schwabe und ehemalige Grünenchef könnte sich gut vorstellen, Baden-Württemberg zu regieren. Özdemir, der sich nach dem Scheitern von Jamaika aus der ersten Reihe zurückgezogen hat und seither dem Verkehrsausschuss vorsitzt, hat die Füße zwei Jahre lang still gehalten, sich in Demut und Teamwork geübt, so sieht er das. Dass er noch mal los wollen würde, rauf, ist keine Überraschung. Weil Kretschmann aber nicht weichen mag, sucht Özdemir sein Heil wohl vorerst in Berlin und in der Flucht nach vorn.

Der 53-Jährige will am 24. September Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag werden, zusammen mit der Psychiaterin und Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther. Leicht wird das nicht, schon Kappert-Gonthers wegen. Die Parteilinke sitzt erst zwei Jahre im Bundestag, drängt sich als Führungskraft also nicht auf - und müsste Amtsinhaberin Katrin Göring-Eckardt im Kampf um den Frauenplatz an der Fraktionsspitze schlagen.

Die Partei steht in Umfragen bei gut 20 Prozent. Flügelkämpfe kann sie nicht brauchen

Göring-Eckardt gilt da als Favoritin, fest steht ihr Sieg aber nicht. Kritiker in der Fraktion finden, sie zeige wenig Profil, gebe Fachpolitikern und Jüngeren zu wenig Raum, schöpfe deren Ideen ab. Andere spotten, Göring-Eckardts Verdienst bestehe vor allem darin, nicht zu stören, also den Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck nicht die Show zu stehlen. Das sei doch ein bisschen wenig.

Dass die Reala Göring-Eckardt von der Parteilinken Kappert-Gonther besiegt wird, gilt aber als unwahrscheinlich. Nicht zuletzt, weil viele finden, Kappert-Gonther habe zu wenig Haare auf den Zähnen, um einen wie Özdemir zu bändigen. Andere nehmen es Kappert-Gonther übel, dass sie gar nicht erst versucht habe, sich vor ihrer Hopplahopp-Bewerbung Unterstützer zu suchen, etwa bei linken Frauen. Manche reagierten verschnupft.

Als bei einem Strömungstreffen linke Grüne beieinander saßen, soll sich nach Angaben von Teilnehmern nicht eine Hand für das Duo Kappert-Gonther-Özdemir gehoben haben. Einige Abgeordnete hätten Kappert-Gonther freundlich mitgeteilt, ihre Bewerbung sei respektabel. Es wolle auch gewiss niemand Streit. Aber sie seien fest entschlossen, "den Toni" zu wählen, denn mit "dem Cem" gehe gar nichts.

Fraktionschef Anton Hofreiter, linker Verkehrs- und Umweltexperte der Grünen, gilt zwar auch bei Anhängern als Erscheinung, die rhetorisch eher mit der Axt unterwegs ist. Bis in die Reihen der Realos genießt er aber den Ruf, ein anständiger Kerl zu sein, ein Teamplayer. Solche Zuschreibungen wirken jetzt wie ein Raketenantrieb unter Hofreiters Bewerbung. Denn sie zielen auf den Realo Cem Özdemir.

Man kann dieser Tage lange suchen, ohne bei den Grünen jemanden zu finden, der sich für Özdemirs Bewerbung begeistert. Zu Führung ungeeignet, persönlich schwierig und nicht bereit, für seine Positionen auch Mehrheiten zu sammeln - das sind nur einige der Einwände, die vom linken Parteiflügel kommen. Aber auch Realos halten sich bedeckt. Wichtiger Mann, könnte ja vielleicht mal Minister werden, heißt es hier. Aber als Parteivorsitzender habe Özdemir zu viel verbrannte Erde hinterlassen, kaum jemand sehne sich nach den alten Flügelkämpfen zurück. Anders als damals stehe die Partei heute in Umfragen bei über 20 Prozent.

Eine schwere Niederlage für Özdemir und Kappert-Gonther wird bei den Grünen nicht mehr ausgeschlossen, auch wenn sich keiner festlegen mag. Nur - mit einem Gesichtsverlust von Özdemir wäre keinem gedient. Auch das beginnt sich herumzusprechen. Özdemir genießt bei Wählern viel Ansehen, gilt als Brückenbauer zu Schwarz-Grün und in die Wirtschaft. Gehe er jetzt baden, werde es heißen, die Grünen wollten ihren besten Leuten keine attraktiven Posten anbieten, prophezeien manche schon. Am Wochenende wollen sich neue Denkgruppen sammeln, beim Realotreffen in Berlin.

© SZ vom 13.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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