Großbritannien:Ganz normaler Wahnsinn

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Leben im Krieg: Weite Teile Aleppos sind zerstört. Der britische Premier Cameron sucht in London nun eine breite Mehrheit für einen Syrien-Einsatz. (Foto: Abdalrhman Ibrahim/Reuters)

Die Abstimmung im britischen Parlament über Luftschläge in Syrien stellt Labour-Chef Jeremy Corbyn vor eine harte Probe: Will er die Partei zusammenhalten oder seinen Prinzipien treu bleiben?

Von Christian Zaschke, London

Als Jeremy Corbyn am Montagmorgen sein Haus verließ, erwarteten ihn Fotografen, die, während sie einander gekonnt aus dem Weg zu rempeln versuchten, unablässig auf ihre Auslöser drückten und den grauen Himmel über Nord-London mit ihren Blitzlichtern erhellten. Der Chef der Labour-Partei hielt kurz inne. Sein leicht tadelnder Gesichtsausdruck schien zu sagen: ein ganz normaler Montag, und so ein Auflauf. Oder war es vielleicht doch kein ganz normaler Montag?

Die Fotografen knipsten jedenfalls, als wäre dies die letzte Möglichkeit, jemals wieder ein Bild von Corbyn als Parteichef zu machen. Das könnte prinzipiell zu denken geben, denn erfahrene Fotografen, Kameraleute und Techniker haben nicht selten ein mindestens ebenso gutes politisches Gespür wie die Kommentatoren, Reporter und Korrespondenten. Doch obwohl Corbyn gerade durch seine schwierigsten Tage an der Labour-Spitze geht, dürfte er der Partei noch eine ganze Weile vorstehen.

Das große Interesse ist der Tatsache geschuldet, dass Corbyn gerade versucht, die Partei zusammenzuhalten, ohne seine Prinzipien zu verraten. Das wiederum liegt daran, dass Premierminister David Cameron im Parlament darüber abstimmen lassen will, ob sich Großbritannien an Luftschlägen gegen die Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien beteiligen soll. Cameron ist dafür. Corbyn ist aus prinzipiellen Erwägungen dagegen.

Der Labour-Chef hat sich am Montag zu einer mit Spannung erwarteten Sitzung mit seinem Schatten-Kabinett getroffen. Die große Frage war, ob er versuchen würde, die Fraktion dazu zu zwingen, sich seiner Ansicht anzuschließen, oder ob er eine freie Wahl erlauben würde. Aus prinzipiellen Erwägungen sprach viel für den Fraktionszwang. Praktisch betrachtet sehr viel dagegen. John McDonnell, Schatten-Finanzminister und engster Verbündeter Corbyns, regte an, den Labour-Abgeordneten eine freie Wahl zu ermöglichen, aber zugleich klar zu machen, dass Labour als Partei gegen die Angriffe sei. Doch dann hieß es am Abend: Es wird weder einen Fraktionszwang noch eine offizielle Haltung der Partei geben. Alle Labour-Abgeordneten dürfen abstimmen, wie sie wollen. Diese Lösung ist überraschend, weil sie bedeutet, dass Cameron mit seinem Vorhaben höchstwahrscheinlich erfolgreich sein wird. Teile des Labour-Schattenkabinetts und einige Dutzend Hinterbänkler werden für Luftschläge stimmen. Diese Zahl wäre deutlich geringer gewesen, wenn die offizielle Parteilinie eine andere gewesen wäre. Immerhin hat Corbyn erreicht, dass es eine zwei Tage währende parlamentarische Debatte über das Thema geben wird. Seine Hoffnung dürfte sein, dass eine derart ausführliche Diskussion bei vielen Abgeordneten den Zweifel daran nährt, ob eine Beteiligung an Luftschlägen wirklich die richtige Lösung ist. Wann die Debatte stattfindet, ist weiterhin offen. Ursprünglich hatte Cameron sie für diesen Mittwoch ins Auge gefasst, nun wird er wohl umplanen müssen. Ein Fraktionszwang hätte aus Corbyns Sicht den Vorteil gehabt, dass Cameron die Wahl unter Umständen abgesagt hätte, weil ihm das Risiko einer Niederlage zu groß gewesen wäre. Der Premier hatte angekündigt, nur abstimmen zu lassen, wenn er sicher sein könne, mit komfortabler Mehrheit zu gewinnen. Cameron will keinesfalls ein zweites Mal nach einer Abstimmung über Angriffe in Syrien als Verlierer dastehen. 2013 hatte das Parlament die Zustimmung zu Luftschlägen gegen Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad verweigert. Diesmal verfügen die Tories zwar über eine Mehrheit von zwölf Sitzen im Parlament, Cameron kann sich jedoch nicht sicher sein, dass seine Fraktion geschlossen für Luftschläge stimmt. Ungefähr ein Dutzend konservative Abgeordnete haben angedeutet, dass sie gegen die Pläne stimmen würden. Rein theoretisch könnte Cameron die Luftschläge ohne Zustimmung des Unterhauses anordnen, das ist jedoch mit den parlamentarischen Gepflogenheiten Großbritanniens nicht vereinbar. Das Problem eines Fraktionszwangs wäre für den Labour-Chef gewesen, dass Cameron trotzdem hätte abstimmen lassen können - und dass es dann vermutlich eine Rebellion gegeben hätte, weil einige Labour-Abgeordnete angekündigt hatten, auf jeden Fall für die Intervention stimmen zu wollen, darunter der Schatten-Außenminister und der stellvertretende Parteichef. Einer der wichtigsten Gewerkschaftsführer fürchtete, die moderaten Labour-Kräfte wollten das Thema nutzen, um den Aufstand gegen den linken Parteiflügel zu proben und Corbyn zu stürzen. Der gab sich betont gelassen. Er verwies erneut darauf, dass er von einer überwältigenden Mehrheit der Mitglieder gewählt worden ist und daher über ein starkes Mandat verfüge. "Ich bleibe hier", sagte er bestimmt, "und ich genieße jede Sekunde."

© SZ vom 01.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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