Großbritannien:Ein Quantum Zoff

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Kann Premier David Cameron die Briten davon überzeugen, am 23. Juni "Ja" zur EU zu sagen? Seine Gegner sitzen sogar im eigenen Kabinett - doch besonders einen Widersacher muss er fürchten.

Von Christian Zaschke

Seit dem Falklandkrieg im Jahr 1982 hatte sich das britische Kabinett nicht mehr an einem Samstag getroffen. An diesem Wochenende aber rief Premierminister David Cameron seine Minister zusammen, um sie über den Deal zu unterrichten, den er in Brüssel bezüglich des britischen Verhältnisses zur EU ausgehandelt hatte. Außerdem wollte er von allen Mitgliedern des Kabinetts wissen, ob sie in den vier Monaten bis zum Referendum über die EU-Mitgliedschaft am 23. Juni für oder gegen einen Verbleib in der Union werben werden.

Nordirland-Ministerin Theresa Villiers berichtete, sie habe den Hauch der Geschichte gespürt. Andere Minister erzählten, es sei sehr zivilisiert zugegangen. Dass sie das eigens erwähnten, liegt daran, dass das Kabinett in der EU-Frage nicht einig ist. Von den 29 Mitgliedern haben sechs erklärt, dass sie für den Austritt sind.

"Ich liebe nicht Brüssel, ich liebe Großbritannien"

Während Cameron nach der Sitzung vor seinen Amtssitz in 10 Downing Street trat, sein hölzernes Redepult umgriff und sich "direkt an das britische Volk" wandte, verließen die EU-Gegner des Kabinetts das Gebäude durch den Hinterausgang, um sich zu einem Treffen der Gruppe "Vote Leave" zu begeben, die für den Austritt trommelt. Cameron sagte, Großbritannien werde stärker, sicherer und besser dran sein, wenn es sich für einen Verbleib in der EU entscheide. Einen Seitenhieb auf die Union erlaubte er sich dennoch. "Ich liebe nicht Brüssel, ich liebe Großbritannien", sagte er. Aber eben weil ihm sein Land so sehr am Herzen liege, werbe er für eine Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft.

Politik als fortwährender Überzeugungskampf: David Cameron und Angela Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel. (Foto: Stephane de Sakutin/AFP)

Zu den Ministern, die seiner Vorgabe nicht folgen, zählen Justizminister Michael Gove, der ein enger Vertrauer Camerons ist (zumindest war er das bis zu diesem Wochenende), sowie Arbeitsminister Iain Duncan Smith. Dieser sagte am Sonntag, durch den Verbleib in der EU sei die Gefahr von Terroranschlägen wie im November in Paris deutlich größer. Das begründete er damit, dass Großbritannien als EU-Mitglied nicht die Form von Kontrolle über seine Grenzen habe, die unerwünschte Einwanderung verhindere. Es ist möglich, dass die für die Grenzen zuständige und streitbare Innenministerin Theresa May diese Aussage als persönlichen Angriff wertet, und dann könnte es bei den Konservativen schon bald weniger zivilisiert zugehen als auf der samstäglichen Kabinettssitzung.

Für Spekulationen hatte lange gesorgt, auf welche Seite sich der Londoner Bürgermeister Boris Johnson schlagen würde. Cameron hatte auf Johnsons Unterstützung gehofft, weil dieser zu den prominentesten Konservativen zählt und es als sicher gilt, dass er viele Wähler überzeugen kann. Dutzende Journalisten hatten sich am Sonntag vor Johnsons Wohnhaus im Norden Londons versammelt, sie harrten dort viele Stunden aus, bis er am späten Nachmittag schließlich vor die Kameras trat und verkündete, er werde für den Austritt werben. Für Cameron ist das eine schlechte Nachricht. Zum einen, weil das Lager der EU-Gegner damit deutlich gestärkt wird, zum anderen, weil Johnson mit dem Schritt deutlich macht, dass er größere Ambitionen hat: Er wäre gern Premier anstelle des Premiers und verspricht sich offenbar bessere Aussichten, wenn er sich auf die Seite der EU-Gegner stellt. Sein Kalkül: Sollten die Briten für den Austritt stimmen, ist es wahrscheinlich, dass Cameron zurücktritt. Johnson stünde bereit. Stimmen die Briten für den Verbleib, könnte er dennoch darauf hoffen, dass Cameron ihm als Geste der Versöhnung ein Ministeramt anbietet.

Immerhin kann der Premier darauf bauen, dass ihn die anderen Parteien mehrheitlich unterstützen. Einzig die nordirische DUP hat erklärt, sie sei gegen die Mitgliedschaft, obwohl gerade Nordirland von Fördermitteln der EU profitiert. In Schottland hat Nicola Sturgeon, Chefin der Scottish National Party, erstmals ausgesprochen, was lange ein offenes Geheimnis war: Sollte die Mehrheit des Königreichs für den Austritt stimmen, die Mehrheit der Schotten aber dagegen, werde es "so gut wie sicher" eine erneute Volksabstimmung über die schottische Unabhängigkeit geben. Schottland ist die mit Abstand EU-freundlichste Region Großbritanniens.

Neben der Gruppe "Vote Leave", die von den sechs abtrünnigen Kabinettsmitgliedern unterstützt wird, gibt es einige Initiativen, die für den Austritt werben, darunter seit Kürzerem "Grassroots Out". Dieser Gruppe hat sich Nigel Farage angeschlossen, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party (Ukip). Er kündete von seiner Zugehörigkeit, indem er die offizielle Krawatte der Bewegung trug, ein bemerkenswert hässliches Kleidungsstück in Giftgrün und Schwarz, das über und über mit dem Schriftzug "GO" verziert ist. Würden modische Erwägungen in der Debatte eine Rolle spielen, müsste sich Cameron keine Sorgen machen.

Ohne auf die Krawatte einzugehen, warnte er am Sonntag, dass sämtliche EU-Gegner sich darüber im Klaren sein müssten, dass sie mit Leuten wie Farage gemeinsame Sache machten, um einen Sprung ins Ungewisse zu wagen.

Vier Monate lang wird die politische Klasse Großbritanniens nun intensiv darüber diskutieren, ob das Land Mitglied der EU bleiben soll. Eine der spannendsten Fragen wird sein, ob sie mit der Debatte die Bevölkerung erreicht. Umfragen zeigen seit Jahren, dass das Thema Europa dem Gros der Briten eher gleichgültig ist. Für David Cameron wäre wichtig, dass sich das zumindest vorübergehend ändert, da ein Verbleib als wahrscheinlicher gilt, je höher die Wahlbeteiligung ausfällt.

© SZ vom 22.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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