Griechenland:Sinnbilder des Versagens

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Die Lage in Griechenland wird immer dramatischer, Athen fühlt sich von Europa im Stich gelassen. Viele Flüchtlinge vertrauen darauf, dass Merkel den Zaun schon öffnen werde.

Von Mike Szymanski

Nicht einmal in der Fantasie entkommt man diesem trostlosen Ort. Auf dem alten Athener Flughafen im Vorort Elliniko steht eine Gangway. Sie führt in den Himmel, jedenfalls wartet an der letzten Stufe ein Plakat, das einen Engel zeigt. Aber so weit kommt man nicht. Ein Passagier aus Bronze versperrt den Aufgang. Diese Gangway ist ein Denkmal.

Vor 15 Jahren ist der Flughafen stillgelegt worden. Auf dem Rollfeld steht noch eine Boeing 747-200. Wie eine gigantische Täuschung muss sich dieser Ort für die Dutzenden Flüchtlinge anfühlen, die auf dem Balkon der Abflughalle stehen, weil sie die Enge drinnen nicht mehr ertragen.

In ihrer Not hat die griechische Regierung die Ruine in Athen zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert. 2500 bis 3000 Gestrandete harren in der Halle und davor aus, so genau hat niemand mehr den Überblick. Wer Essen haben will - es gibt belegte Brote und Orangen - muss sich neben einem Müllcontainer anstellen. Und wenn man die freundliche Helferin fragt, ob sie noch Unterstützung bräuchte, dann lächelt sie bitter und sagt: "Das ganze Land braucht doch mehr Unterstützung."

30 000 Flüchtlinge stecken in dem Land fest. Und täglich kommen Tausende neue an

Die Flüchtlingskrise schafft gerade zuhauf Sinnbilder für das Versagen der europäischen Politik. Elliniko liefert eines davon. Jeden Tag bringen Busse Neuankömmlinge, mit Schlafsäcken und Hoffnung bepackte Gestrandete. Tausende erreichen die griechischen Inseln jeden Morgen. Seitdem die meisten im Norden die Grenze zu Mazedonien nicht mehr passieren dürfen, stauen sich die Flüchtlinge im Land. Ein Albtraum ist Wirklichkeit geworden: Die Balkanroute - der Weg unter anderem nach Deutschland - ist so gut wie dicht. 30 000 Flüchtlinge stecken fest.

Ein anderes Sinnbild liefert der Ort Idomeni, ein Dorf mit Grenzübergang zu Mazedonien. Dort hat am Montag die mazedonische Polizei Flüchtlinge - darunter viele Frauen und Kinder - mit Tränengas zurückgetrieben: Ihr kommt hier nicht rein! Wer in Athen noch Hoffnung hat, der bekommt sie spätestens dort ausgetrieben. Emilios Dounias, 34, setzt sich seit vergangenen Sommer fast jeden Tag purer Verzweiflung aus. Er ist Ingenieur von Beruf, Freiberufler. Aber die Arbeit muss jetzt warten, dachte er. Was in Idomeni geschieht, war schon schwer genug zu begreifen, als die Balkanländer die Flüchtlinge noch durchließen. Aber jetzt, da die Grenze dicht ist, lässt sich das Elend kaum noch fassen. "Manche denken über Selbstmord nach. Sie kommen nicht vorwärts. Zurück geht es auch nicht. Sie verzweifeln", sagt der Helfer. Neulich gab es wieder Streit an der Essensausgabe. Hinterher kam einer der Flüchtlinge zu ihm und entschuldigte sich. Die Nerven liegen blank. Ein griechischer Polizist sagt: "Es bricht uns das Herz, was hier geschieht. Wir versuchen, den Leuten klarzumachen, dass wir nichts für die Situation können und sie warten müssen."

Warten. Nur wie lange noch?

Mittlerweile sollen 9000 Flüchtlinge an der Grenze festsitzen. Die Regierung hat versucht, einige mit Bussen ins Landesinnere zurückzubringen. 20 Kilometer entfernt ist ein Camp, 70 Kilometer ein anderes. Die Lage dort: desolat. Ohne internationale Hilfsorganisationen und freiwillige Helfer wäre das System längst zusammengebrochen. Der Staat kann schon lange nicht mehr leisten, was von ihm verlangt wird. Die Flüchtlinge wollen nicht bleiben. Griechenland ist selbst Krisenland. Wer es sich leisten kann, nimmt ein Taxi zur Grenze. Die anderen reihen sich in den Treck ein und begeben sich auf den langen Marsch. "Die Menschen sagen mir, Merkel sei ihre einzige Hoffnung", erzählt Dounias. Sie glaubten, dass die Kanzlerin eingreifen werde und sich die Grenze dann wieder öffne. Und wenn es so weit ist, will jeder am Zaun stehen. Doch die Kanzlerin schickte am Dienstag andere Signale: Es gelte, die Politik des Durchwinkens zu beenden, sagte sie nach einem Gespräch mit Kroatiens Ministerpräsidenten Tihomir Orešković in Berlin. "Es gibt Übernachtungsmöglichkeiten und Aufenthaltsmöglichkeiten auch in Griechenland. Die müssten auch von den Flüchtlingen genutzt werden."

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(Foto: Petros Giannakouris/AP)

Entschlossen, ihren Weg fortzusetzen: Flüchtlinge protestieren am griechisch-mazedonischen Grenzzaun bei Idomeni.

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(Foto: Alexandros Avramidis/Reuters)

Der Grenzübergang ist zum Sinnbild für die Flüchtlingskrise in Griechenland geworden.

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(Foto: Nake Batev/dpa)

Wer in Athen noch Hoffnung hatte - hier bekommt er sie ausgetrieben, am Stacheldraht der mazedonischen Grenze.

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(Foto: Louisa Gouliamaki/AFP)

Am Montag hinderte Mazedoniens Polizei hier Flüchtlinge mit Tränengas daran, die Grenze zu überschreiten. Es kam zu chaotischen Szenen.

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(Foto: Louisa Gouliamaki/AFP)

Auch viele Frauen und Kinder waren betroffen. Die Botschaft: Ihr kommt hier nicht rein!

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(Foto: Georgi Licovski/dpa)

Ein Albtraum ist Wirklichkeit geworden: Die Balkanroute - der Weg unter anderem nach Deutschland - ist so gut wie dicht.

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(Foto: Georgi Licovski/dpa)

Und vor den Zäunen und Grenzpatrouillen Mazedoniens stecken 30 000 Flüchtlinge fest. In Griechenland, einem Land, das selbst Krisenstaat ist.

Die Migrationsbehörde in Athen. Sie ist dem Innenministerium unterstellt. Wer sich einen eigenen Apparat vorstellt, wird enttäuscht. Das Migrationsministerium, das ist quasi der Minister, Yannis Mouzalas, zugleich Stellvertreter des Innenministers, und eine Handvoll Leute. Mouzalas war - bis zu seiner Verpflichtung als Minister im Herbst - ein Athener Gynäkologe mit gut laufender Praxis und Mitbegründer des griechischen Sprosses der Hilfsorganisation "Ärzte der Welt". Seit 27 Jahren verarztet er Flüchtlinge - nun soll seine Politik die Wunden der Krise heilen.

Er kommt gerade aus einem dreistündigen Krisentreffen. Die Augen: müde. Er liegt fast mit dem Oberkörper auf dem Tisch. Er hat gerade einmal Zeit für eine Zigarette, die ist ihm wichtiger als der Espresso. Beides schafft er nicht. In seiner Stimme ist Verbitterung zu spüren: "Haben wir bald ein Europa ausgesuchter Mitgliedstaaten, ein Europa à la carte, oder sind wir noch eine Europäische Union?"

Im Alleingang hatten die Balkanländer unter Führung Österreichs die Grenze dichtgemacht, wohl wissend, in welche Lage Griechenland dieser Schritt bringen würde. Mouzalas hat Europa noch nicht aufgegeben. Er hofft darauf, dass die EU-Länder bei ihrem Flüchtlingsgipfel am kommenden Montag zu einer Lösung finden, die Griechenland hilft. Für Mouzalas kann sie nur so aussehen, dass alle Länder der Gemeinschaft Flüchtlinge aufnehmen. "Die Krise ist nicht nur ein griechisches Problem", sagt er.

Manche EU-Partner wollten das Land kaputt machen, glauben viele in Athen

Aber Griechenland könnte das erste Land sein, das wirklich an ihr scheitert. Wieder macht sich in Athen ein Gefühl breit, es gehe manchen EU-Partnern nur darum, das Land kaputt zu machen. Im Sommer vergangenen Jahres musste sich besonders Deutschland diesen Vorwurf gefallen lassen. Die unnachgiebige Position der Bundesregierung in der Schuldenkrise hatte diesen Eindruck aufkommen lassen. Aber Merkels mitfühlendes Agieren in der Flüchtlingskrise hat zum Stimmungswandel geführt. Premier Alexis Tsipras rief bei ihr an, um sich über den Alleingang Österreichs und der Balkan-Alliierten zu beschweren. Wie Tsipras will auch Merkel verhindern, dass die Flüchtlingskrise die zaghaften Erfolge der Griechenland-Rettung aus dem vergangenen Jahr zunichtemacht. So könnten aus Gegnern doch noch Verbündete werden.

Innenpolitisch führt die Notlage dazu, dass Regierung und Opposition ebenfalls zusammenrücken. Am Freitag will Tsipras mit den Chefs fast aller im Parlament vertretenen Parteien das weitere Vorgehen besprechen. Selbst die Bauern, die bis vor Kurzem ihre Wut über neue Sparauflagen der Regierung auf die Straße getragen haben, mäßigen sich gerade. Auch sie scheinen verstanden zu haben: Es geht für Griechenland mal wieder um alles.

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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