Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Nein, es war kein Honiglecken, als Schüler, der Besseres zu tun hatte, Schillers "Lied von der Glocke" auswendig zu lernen. Diese gestelzte Sprache, der belehrende Ton und überhaupt die Geschwätzigkeit, die dem Gedicht eine unmenschliche Länge verleiht - das war nichts für einen Jugendlichen, der gerade Mick Jagger als literarischen Hausgott entdeckt hatte. Halbwegs akzeptabel waren dagegen die rotzfrechen Jenaer Romantiker. Nicht wegen ihrer Lyrik, die weit hinter den Rolling Stones zurückfällt, sondern weil sie, wie Caroline Schlegel berichtete, bei der Lektüre der Glocke "fast von den Stühlen gefallen sind vor Lachen". Leider hatte der Lehrer keinen Sinn für die Romantik, er bestand auf Schiller und der grausamen Praxis, dessen Verse auswendig vor der Klasse herunterzuleiern. So schrecklich das war, mittlerweile trägt die stupide Lernerei die schönsten Früchte: Kaum eine Konferenz, kaum ein Stehempfang vergeht, ohne dass man mit einem Zitat aus der Glocke Eindruck schindet. Mal begibt man sich "hinaus ins feindliche Leben", mal wartet die "züchtige Hausfrau", und jedem, der seine Hochzeit ankündigt, erfreut man mit Schillers Diagnose: "Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang." Wer derart brilliert, gilt als intelligenter Mensch, und die Leute wispern: "Wahnsinn! Der kann Goethes Glocke komplett auswendig."

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