Gewalt gegen Asylsuchende:Deutsche Geisterstunden

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Monat für Monat zählt die Polizei 40 Angriffe auf Unterkünfte. Das ist keine Zahl, die man hinnehmen sollte, bloß weil es "nicht mehr so schlimm" ist. Und es geht hier auch nicht um ein Problem, das nur im Osten der Republik besteht.

Von Nicolas Richter

Die Stunde nach Mitternacht hat die Menschen schon immer in Angst und Schrecken versetzt; es ist die Zeit, in der zumindest Abergläubige mit dem Erscheinen verschiedener Ungeheuer rechnen. In Deutschland gibt es davon eine besondere Spielart, die allerdings leider nichts mit Sagen zu tun hat: Wenn junge, weiße, zornige Männer losziehen, um Asylunterkünfte anzugreifen, dann tun sie das meist zwischen null und vier Uhr morgens. Wer in einer solchen Unterkunft lebt, muss sich laut Statistik in jenen Stunden am meisten davor fürchten, dass einer oder mehrere Ausländerfeinde Brandsätze oder Steine werfen oder Parolen und Hakenkreuze an die Wände schmieren. Dieser Spuk ist in Deutschland leider keineswegs Aberglaube. Die Steine und das Feuer sind echt, die möglichen Verletzungen und die Todesgefahr sind es auch.

Verglichen mit 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, hat sich die Lage zwar entspannt. Neue Zahlen aus dem Bundeskriminalamt legen nahe, dass sich die Brandstifter beruhigt haben. Seit einem Jahr ist die Zahl der Angriffe auf Asylunterkünfte gesunken. Man sollte daraus aber nicht schließen, dass die deutsche Geisterstunde nicht mehr gefährlich ist.

Erstens zählt die Polizei Monat für Monat noch immer 40 Angriffe auf Unterkünfte, im Schnitt also mehr als einen am Tag. Das ist keine Zahl, die man hinnehmen darf, nur weil es "nicht mehr so schlimm" ist. Es ist auch nicht alleine ein Problem "des Ostens". Etliche Angriffe geschehen in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Geisterstunde kann in Deutschland überall sein, und die Angst bleibt, auch wenn der Angriff vorbei ist. Wo kann sich ein Flüchtling noch sicher fühlen, wenn selbst in seinem Zuhause nachts die Scheiben bersten, weil Neonazis Böller am Fensterglas zünden?

Es reichen Steine, Böller oder eine Flasche mit Benzin

Zweitens sind die Angriffe nicht deswegen harmlos, weil sie in kleinem Kreis und mit schlichten Mitteln verübt werden. Die Täter gehören selten zu nationalen Netzwerken, eher tun sie sich mit ein paar Bekannten zusammen und verüben die Taten dort, wo sie selbst leben. Der Staat kann also nicht Ruhe schaffen, indem er eine landesweite Organisation zerschlägt. Stattdessen kann der gewaltbereite Brandbürger überall sein: der selbstradikalisierte Täter, der Einzelgänger, der ausrastet, die Drei-Mann-Clique, die spontan loszieht. Werkzeuge finden sie genug, um ihre Wut auszulassen. Die rechte Szene ist generell gut bewaffnet, aber es reichen ja auch Steine oder Böller oder eine Flasche mit Benzin. Dass die Terroranschläge der "Gruppe Freital" keine Toten hinterließen, ist reines Glück. Die Täter jedenfalls nahmen den Tod ihrer Opfer mutmaßlich billigend in Kauf.

Drittens kann die politische Kontroverse um Asylsuchende jederzeit wieder aufflammen - und mit ihr die Gewalt, die sie vor allem im Jahr 2015 begleitet hat. Obwohl der Anschlag des Tunesiers Anis Amri im Dezember in Berlin keine rechten "Vergeltungsaktionen" auslöste, kann dies grundsätzlich passieren: Gewalt als Antwort auf Gewalt. Auch die Debatten vor der Bundestagswahl im Herbst könnten zu neuem Hass und neuen Attacken auf Asylsuchende verleiten. In Deutschlands Geisterstunden spuken nicht nur die braunen Geister der Vergangenheit, sondern sehr zornige, unberechenbare Männer der Gegenwart.

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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