Gespräch mit Steinmeier:"Russland überzieht"

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Außenminister Frank-Walter Steinmeier kritisiert im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung Moskau im Kaukasus-Konflikt - warnt aber vor einer Renaissance überkommener Feindschaft.

Daniel Brössler

SZ: Herr Minister, Hand aufs Herz, haben Sie sich in Russland getäuscht?

"Wir brauchen dringend eine Rückkehr zu Verantwortung und Vernunft": Außenminister Frank-Walter Steinmeier (Foto: Foto: AP)

Steinmeier: Ich gehöre zu denjenigen, die sich keine Illusionen über den inneren Zustand Russlands und über russische Politik gemacht haben. Von diesem Stand aus habe ich eine Politik der Vernunft und des Realismus formuliert, die allerdings immer nur dann funktioniert, wenn sie Partner findet.

Es gibt leider Anlass, das in den nächsten Wochen und Monaten zu prüfen. Ich betrachte das aber überhaupt nicht als Einwand gegen unseren Politikansatz, der alternativlos bleibt.

SZ: Vor gerade einmal drei Monaten haben Sie Russland eine Modernisierungspartnerschaft angeboten. Tempi passati?

Steinmeier: Ich hoffe nicht, aber ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass die hoffnungsvollen Ansätze, die wir formuliert haben, derzeit nicht ohne weiteres zur Umsetzung anstehen können. Vorrang hat jetzt die Bewältigung der Krise im Kaukasus. Ausgehend von einem fragilen Waffenstillstand und vor dem Hintergrund einer falschen und gefährlichen Entscheidung der russischen Führung müssen wir nun dennoch einigermaßen stabile Verhältnisse erzeugen. Ich glaube, erst danach können wir wieder ins Gespräch über Perspektiven des europäisch-russischen und deutsch-russischen Verhältnisses kommen.

SZ: Wie konnte es überhaupt zum Krieg kommen? Russland spricht von Völkermord. Georgien präsentiert sich als Opfer. Wer hat recht?

Steinmeier: Nach meinem Eindruck werden an dieser Frage noch Generationen von Historikern arbeiten. Schuldzuweisungen stehen zwar nicht im Vordergrund, aber wir sollten davon ausgehen, dass dem georgischen Angriff auf Zchinwali tagelange gegenseitige Provokationen zwischen Südosseten und Georgiern vorausgingen.

SZ: Drei Wochen vor Ausbruch des Krieges waren Sie auf Vermittlungsmission in Abchasien. War das die falsche Baustelle?

Steinmeier:

Mir war klar, dass einer der eingefrorenen Konflikte der Vergangenheit sich bereits im Überhitzungszustand befand. Ich habe selten an einem Platz auf der Welt so viel Unversöhnlichkeit erlebt wie im südlichen Kaukasus, auch in den Gesprächen mit der georgischen Regierung einerseits und den Vertretern der Region Abchasiens auf der anderen Seite. Nicht erkennbar war, dass die Lunte in einer anderen Region Georgiens bereits brannte und am 7. und 8. August zur Explosion kam. Das bestätigen auch andere internationale Beobachter.

SZ: Eine Explosion, die im Verhältnis Russlands zum Westen eine Eiszeit nach sich zieht?

Steinmeier: Ich bin entsetzt über diejenigen im Westen und in Russland, die sich die zynischen Gewissheiten des Kalten Krieges zurückzuwünschen scheinen. Mich erschreckt die Geschichtsvergessenheit, mit der wir über Jahre, die mir gut in Erinnerung sind und die opferreich waren, hinweggehen, und ich verstehe nicht, was manche zu leichtfertigen Vergleichen von historischen Situationen treibt - sei es München 1938 oder Sarajewo 1914. Es liegt doch auf der Hand, dass unsere Konflikte nicht mehr von Systemgegensätzen und Ideologien beherrscht sind.

SZ: Das nicht, aber von einem imperialen Impuls Russlands, der älter ist als die Sowjetunion.

Steinmeier: Russland spielt ganz ohne Zweifel die nationale Karte und überzieht dabei. Und das bei einem Gegner, der militärisch eine Randgröße ist. Aufgabe der Außenpolitik ist es aber nicht, das Geschehen zu beschreiben. Aufgabe von Außenpolitik muss es sein, Ansatzpunkte zu entwickeln, die entstandenen Konflikte wieder beherrschbar zu machen. Das mag manchmal weniger attraktiv sein als beifallheischende Drohungen und sogenannte "letzte Worte". Dennoch muss Außenpolitik der Verführung widerstehen, nur mit der eigenen Öffentlichkeit zu sprechen. Vielmehr bleibt es die klassische Aufgabe der Außenpolitik, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen.

SZ: Nun hat Russland die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anerkannt. Welche Folgen hat das?

Steinmeier: Diese Entscheidung ist sehr bedauerlich und für uns in keiner Weise akzeptabel. Sie berührt die territoriale Unversehrtheit eines souveränen Nachbarstaates. Das ist eine gefährliche Zuspitzung der Situation, und die Lösung der Konflikte in Abchasien und Südossetien wird dadurch noch schwieriger.

SZ: Ist der Westen zum Zuschauen verdammt?

Steinmeier: Wir werden sehr genau überlegen müssen, was die nächsten Schritte sind. Unsere Botschaft bei den zurückliegenden Krisentreffen der EU-Außenminister und der Nato war klar und deutlich. Das erwarte ich auch jetzt. Gleichzeitig kommt es aber darauf an, eine weitere Spirale der Eskalation zu vermeiden. Wir haben leider sehen müssen, wie schnell die Dinge außer Kontrolle geraten können. Wir brauchen dringend eine Rückkehr zu Verantwortung und Vernunft. Dafür werde ich mit ganzer Kraft arbeiten.

SZ: Kann es gegenüber Russland überhaupt eine Rückkehr zur Tagesordnung geben?

Steinmeier: Wir bewegen uns gegenwärtig weit außerhalb der Tagesordnung. Das ist jedem, der in Europa und in Russland Verantwortung trägt, klar. Ich würde mir allerdings wünschen, dass wir gemeinsam um Bedingungen ringen, um zu geregelten Beziehungen zurückzufinden.

Lesen Sie auf Seite 2, welche Botschaft aus Steinmeiers Sicht nächste Woche vom Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Georgien-Krise ausgehen sollte.

SZ: Völkerrechtler haben davor gewarnt, dass die Anerkennung des Kosovo einen Präzedenzfall schafft. Berufen sich die Russen darauf nicht zu Recht?

Steinmeier: "Wir müssen alles tun, dass die Krise im südlichen Kaukasus nicht zu einer Krise der gesamten Schwarzmeerregion wird." (Foto: Foto: ddp)

Steinmeier: Nein. Ich habe daran zu erinnern, dass Russland einen guten Teil des Weges bis hin zur Statusentscheidung über den Kosovo als Mitglied der Kontaktgruppe mitgegangen ist. Der Kosovo ist und bleibt ein Sonderfall des Völkerrechts, der als Modell nicht missbraucht werden kann und darf. Auf den Balkan beruft sich Russland aber auch in einem zweiten Argument. Es behauptet, es seien Gräueltaten an der südossetischen Bevölkerung verübt worden. Ob und in welchem Umfang das der Fall ist, müsste von Südossetien oder Russland dokumentiert werden.

SZ: Ist eine internationale Untersuchung nötig?

Steinmeier: In der Tat wäre Russland gut beraten, etwa der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Möglichkeit zur Untersuchung der Vorwürfe einzuräumen.

SZ: Am Montag tagt der Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zur Georgien-Krise. Wird da nicht die Ratlosigkeit einer tiefgespaltenen Union offenbar werden?

Steinmeier: Ich wehre mich ja nicht gegen Kritik an der EU: Gerade in diesem Jahr gab es Anlass, selbstkritisch über ihren Zustand zu reflektieren, nachdem uns die Reform durch den Lissabon-Vertrag immer noch nicht gelungen ist. Allerdings halte ich die manchmal etwas oberflächliche Kritik an der europäischen Außenpolitik im Falle Georgiens nicht für gerechtfertigt. Wer hätte denn die Waffen zum Schweigen gebracht, wenn nicht die Europäische Union mit der Autorität der französischen Präsidentschaft so beherzt eingegriffen hätte?

SZ: Welche Botschaft muss vom Sondergipfel ausgehen?

Steinmeier: Drei Dinge: Erstens eine klare Haltung zur russischen Anerkennungsentscheidung und unsere Forderung, dass der Rückzug entsprechend den Vereinbarungen stattfindet. Zweitens muss Europa humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau anbieten. Drittens dürfen wir uns einem europäischen Beitrag für die politische Stabilisierung der Region nicht entziehen. Im Kabinett haben wir deshalb in einem ersten Schritt die Beteiligung deutschen Personals an einer OSZE-Mission in der Konfliktregion beschlossen.

SZ: Polen hat sich nach Ausbruch des Georgien-Krieges beeilt, die Stationierung amerikanischer Abfangraketen unter Dach und Fach zu kriegen. Ist die US-Raketenabwehr also doch gegen Russland gerichtet?

Steinmeier: Von Anfang an habe ich empfohlen, entsprechende missverständliche Signale zu vermeiden. Ich gehöre zu denen, die nicht bestreiten, dass wir uns neuartigen Bedrohungen aus den Mittleren Osten gegenübersehen können. Wenn die Bedrohungsanalyse stimmt, dann treffen diese Bedrohungen die USA, Europa und Russland gleichermaßen. Deshalb habe ich dringend dafür plädiert, den Schutz dagegen auch gemeinsam zu organisieren.

Ich hoffe, dass die Debatte über dem aktuellen Konflikt um Georgien nicht zum Erliegen kommt. Deshalb bin ich froh, dass der polnische Außenminister noch vor der Unterzeichnung des Vertrages angeboten hat, über Kooperations- und Inspektionsrechte mit Russland zu reden. Anspruchsvolle Verteidigungsprojekte müssen immer ein Beitrag zu erhöhter Sicherheit sein. Sie werden ihren Zweck verfehlen, wenn sie einen neuen Rüstungswettbewerb initiieren. Das kann immer noch vermieden werden.

SZ: In Tiflis hat die Kanzlerin bekräftigt, Georgien könne Nato-Mitglied werden. Neu war das nicht, aber fanden Sie Ort und Zeit passend?

Steinmeier: Nach hartem Ringen haben wir Georgiens Eintritt in eine Vorstufe der Nato-Mitgliedschaft beim Gipfeltreffen in Bukarest zurückgestellt, die Perspektive einer Nato-Mitgliedschaft aber bestätigt. Dabei bleibt es - ohne Rücksicht darauf, wo man Erklärungen abgibt.

SZ: Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko verfolgt den Nato-Beitritt seines Landes seit dem Georgien-Krieg noch entschlossener. Verstehen Sie, dass die Ukraine Schutz vor Russland sucht?

Steinmeier: Engere Beziehungen zur EU sind in der Ukraine unumstritten. Wir haben aber immer noch ein schwieriges Meinungsbild, was die Nato-Mitgliedschaft betrifft. So zerrissen die Ukraine in dieser Frage ist, so sehr muss man die Sorge verstehen, dass die Ereignisse in Georgien Einfluss nehmen könnten auf die Ukraine. Wir verfolgen den Streit um die Stationierung und die Bewegungsmöglichkeiten der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol.

Wir müssen alles tun, dass die Krise im südlichen Kaukasus nicht zu einer Krise der gesamten Schwarzmeerregion wird. Ich kann nur hoffen, dass die letzten Tage allen eine Lehre sind. Wenn es nicht gelingt, die Eigendynamik von Konflikten zu brechen, geraten sie außer Kontrolle.

SZ: Haben die Ereignisse der vergangenen Wochen Ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Energielieferanten Russland erschüttert?

Steinmeier: Wir betreiben Energiepolitik mit Russland nicht auf der Basis eines naiven Vertrauens, sondern auf Basis über 40-jähriger Zusammenarbeit deutscher und russischer Unternehmen. Abhängigkeit von irgendeinem Partner ist nie Zweck deutscher Energiepolitik gewesen. Deshalb haben wir uns - erfolgreicher als andere - um die Diversifizierung unserer Lieferwege bemüht, und wir werden dies weiter tun, wie etwa bei der kürzlichen Vereinbarung einer Energiezusammenarbeit mit Nigeria.

SZ: Bald werden Kanzlerin und Außenminister Wahlkampf gegeneinander führen. Muss Außenpolitik in diesem Wahlkampf tabu sein, damit Deutschland nicht gespalten auftritt?

Steinmeier: Wer auch immer für die SPD den Wahlkampf zu führen hat: Außenpolitik wird keinen beherrschenden Einfluss darauf haben. Tabuisiert werden muss sie deshalb nicht.

© SZ vom 28. 08.2008/plin/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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