Gastkommentar:Tut uns leid, ihr müsst wählen

Lesezeit: 3 min

Politiker sollten wegen der Nichtwähler nicht in Sack und Asche gehen.

Von Cornelie Sonntag-Wolgast

Bremen hat erneut schmerzhaft gezeigt: Die Wahlbeteiligung sinkt - auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene. Von fast 90 Prozent bei der Bundestagswahl 1983 sackte sie auf gut 71 Prozent 2013. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland und jetzt auch in Hamburg und Bremen gaben nur noch etwa die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Gründe sind Individualisierung, das Schwinden der traditionellen Bindung an Parteien, Desinteresse und Ohnmachtsgefühle gegenüber "denen da oben". Außerdem wirkt es demobilisierend, wenn schon vor dem Wahltag alles gelaufen zu sein scheint. Protest und Unmut suchen sich andere Ventile: Bürgerinitiativen, Unterschriftensammlungen, "Straßenspaziergänge". Das zeigt den Willen, sich einzumischen - ersetzt aber nicht den Urnengang. Das Wahlrecht ist nun mal die Visitenkarte der Demokratie.

Politiker reagieren auf den beunruhigenden Trend mit Demutsgebärden und Service-Angeboten. Wohlfeile Beteuerungen wie "Wir müssen die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nehmen" und ein bundesweites Aktionsprogramm "Bürgerdialog" gehören dazu. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi schlug mobile Wahlkabinen und Wahlmöglichkeiten auch in Supermärkten und Stadtbüchereien vor. Das klingt so, als wollten die Parteien sich dafür entschuldigen, dass sie den Bürgern das Wählen zumuten - und es daher so bequem wie möglich machen. Vorgeschlagen wird auch, Wahlen über eine ganze Woche auszudehnen. Das jedoch macht den Vorgang beliebig und nimmt dem Wahlsonntag seine Dramatik und Brisanz.

Richtig ist: Die Politik von heute elektrisiert nicht mehr. Die Außenpolitik produziert mehr Fragen als Antworten. Innenpolitisch sind große Streitthemen beiseitegeräumt: Atomkraft, Familienpolitik, Frauenquote in Unternehmen, der Ausbau sozialer Leistungen. Selbst in der Einwanderungsfrage rücken die Lager zusammen. "Im Bundestag sitzen lauter schwarze, rote und grüne Sozialdemokraten", witzelte kürzlich FDP-Chef Christian Lindner (Wobei die SPD von der "Sozialdemokratisierung" nicht profitiert). Zurück bleibt der Eindruck mangelnder Unterscheidbarkeit. Das stört die Menschen.

Mandatsträger und Minister müssen nicht in Sack und Asche gehen. Selbstkritik tut immer gut, Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigenen Leistungen aber auch. Nötig ist ein Feldzug gegen Vorurteile, die auf dem Misthaufen mangelnder Kenntnis gedeihen. Es stimmt auch nicht, dass Abgeordnete sich nur vor Wahlen "beim Bürger blicken lassen". Die meisten bemühen sich während der gesamten Legislaturperiode, in Sprechstunden, Podien und im Netz ihre Arbeit zu erklären. Oft übrigens mit geringer Resonanz. Hilfreich sind persönliche Erfahrung und Anschauungsunterricht. Während meiner Parlamentsjahre in Bonn und Berlin hatte ich oft Gäste aus dem Wahlkreis, die sich anfangs ausgiebig über das halb leere Plenum beschwerten. Wenn ich ihnen dann den Ablauf einer Sitzungswoche geschildert hatte, wurden sie kleinlaut, und als ich fragte, ob sie sich eine eigene Kandidatur vorstellen könnten, kam die Antwort: "Das ist mir zu viel Stress."

Es ist Zeit für eine Auffrischung der Debattenkultur im Deutschen Bundestag

Dennoch muss sich etwas ändern im Politikbetrieb. Nicht nur dem Bundestagspräsidenten sollte die Auffrischung der Debattenkultur am Herzen liegen. Norbert Lammert hat ja recht, wenn er das lähmende Ritual der "Regierungsbefragung" am Mittwoch jeder Sitzungswoche beleben will. Da sollen die Abgeordneten eigentlich Fragen an die Regierung stellen können, in der Regel gibt diese aber selbst die Themen vor. Wer öfter mal verfolgt, wie etwa im britischen Unterhaus der Premier oder seine Minister durch unbequeme Fragen - und auch räumlich - in die Enge getrieben werden, der weiß, dass es auch anders geht. Schwerer wiegen im deutschen Parlamentsgeschehen Gebaren und Wortwahl der Akteure. Die unanschauliche, floskelhafte Sprache vieler Amts- und Mandatsträger wirkt ermüdend und unehrlich. Kürzlich beschrieb Verkehrsminister Alexander Dobrindt die Maut als "einen echten Systemwechsel von einer vorwiegend steuerfinanzierten Infrastruktur zu einer nutzerfinanzierten Infrastruktur." Solches Kauderwelsch gehört nicht ins Plenum. Alle Volksvertreter sollten sich auf klare, konkrete Aussagen verpflichten.

Und weiter: Mehr Bundestagsdebatten zu wichtigen, das Leben der Menschen berührenden Fragen ohne Fraktionszwang. Die sind meist lebendiger, emotionaler und geben den Zuhörern mehr Orientierung. Nötig ist auch die Einführung von Elementen direkter Demokratie auf Bundesebene, zumindest in Form von Volksinitiativen und Volksbegehren - auf der Basis seriöser Anforderungen an die Mindestbeteiligung und beginnend mit der Möglichkeit für Bürger, das Parlament binnen einer Frist dazu zu zwingen, ein bestimmtes Anliegen aufzugreifen.

Es gibt sie ja, die wachen Bürger, die sich etwa für eine menschenfreundliche Betreuung von Flüchtlingen engagieren und bei fast jedem Aufmarsch von Neonazis Gegendemonstrationen organisieren. Manche Volksvertreter solidarisieren sich mit ihnen. Aber es könnten mehr sein, die Flagge zeigen. Das ist dann zugleich ein Signal: Wir bewegen uns nicht nur in den Wirkungsstätten der politischen Klasse, wir sind ein Teil von euch!

Unsere Demokratie ist gefestigt, aber erschlafft. "Visionen" wünschen sich viele. Nun, Visionen wie einst die neue Ostpolitik oder die deutsche Einheit liegen nicht auf der Straße. Doch es muss gelingen, wenigstens ein großes Projekt für die kommende Zeit energisch und leidenschaftlich voranzutreiben. Zum Beispiel eine Großoffensive für Bildung, die endlich die soziale Kluft in unserem Land einebnen kann. Oder eine einmütige, von Humanität geprägte Einwanderungspolitik in Europa. Schwierig, aber der Mühe wert.

Cornelie Sonntag-Wolgast , 72, war von 1998 bis 2002 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium. Sie ist Mitglied der SPD.

© SZ vom 16.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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