Gastkommentar:Sinn und Besinnlichkeit

Auch in den Niederungen von Bratwurstgebrutzel und Jingle Bells kann man den Mund aufmachen gegen dunkle Sprüche.

Von Silke Niemeyer

Was dem Karneval Jubel-Trubel-Heiterkeit ist, das ist dem Advent die Besinnlichkeit, jenes schwer greifbare Etwas, das zwischen Glühweinschwaden, Lichterketten und der sechsundfünfzigsten Wiederholung von "Der Kleine Lord" oszilliert. Beide werden gern als Vermeidungsstrategien eingesetzt, Jubel-Trubel-Heiterkeit als Vermeidung von Humor, Besinnlichkeit als Vermeidung von Besinnung. Besinnlichkeit entsteht, wo man so tut, als würde man über Sinnvolles nachdenken. Sie ist ein Zustand wohligen Brütens, während Besinnung wache Aufmerksamkeit verlangt.

Mit Glaube oder Religiosität hat Besinnlichkeit nicht viel zu tun, auch wenn man ihr das nachsagt. "Echte Religiosität ist ein Tun. Gottes Angesicht muss hervorgeholt werden. Daran arbeiten heißt religiös sein, nichts anderes", sagt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber. Gottes Angesicht hervorholen klingt schwer mystisch. Es geht aber ganz praktisch. Es fängt damit an, dass man dem etwas abgedroschenen, aber nicht dummen Rat folgt "Mach's wie Gott, werde Mensch!" und selbst Gesicht zeigt. Wie einst Menschen aus Magdeburg, die ihre Gesichter fotografieren ließen, um ein Hochhaus damit zu tapezieren. Hoch oben stand "Magdeburg zeigt Gesicht gegen Nazis".

Man kann es auch tun in den Niederungen von Bratwurstgebrutzel und Jingle Bells, bei den Weihnachtsmarktbesuchen, Betriebsfeiern und Verwandtschaftstreffen, die jetzt anstehen: sich besinnen, wenn wieder einer mit den dunklen Sprüchen anfängt, und einfach mal den Mund aufmachen und gegenhalten, statt besinnlich in den Glühweinbecher glotzen. Die Humanität wird auch dort verteidigt. Das tut not. Das hat Sinn. Das ist Advent.

Silke Niemeyer, 54, ist evangelische Pfarrerin.

© SZ vom 01.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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