Gastkommentar:Alles ist real

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Die "Digital Detox"-Bewegung und ihre Forderung nach der Abkehr vom Internet lässt auf ein reaktionäres Verständnis der Welt schließen.

Von Jürgen Geuter

Smartphones können extrem ablenkend sein. Man möchte nur kurz die Uhrzeit checken, doch quasi automatisch öffnet sich Twitter, und rechts oben blitzen permanent neue Nachrichten auf. Drei Apps und fünf Minuten später legt man das Telefon beiseite und hat vergessen nachzuschauen, wie spät es ist. Also alles wieder von vorne.

So oder so ähnlich beginnen oft Erzählungen oder Bücher, die das Digitale als den Verstand aufweichende, dämonische Kraft des Alltags identifizieren. Der Tenor: Über das Smartphone reicht das Internet in jede Sekunde unseres Lebens, es lockt mit Unterhaltung, Zerstreuung oder der Empörungsmaschine sozialer Medien - es lockt heraus aus der "realen Welt".

Die Lösung, die in den vielen Selbsthilfebüchern auf dem Markt und in Artikeln präsentiert wird, heißt "Digital Detox" oder "Digitaler Minimalismus". Allein im vergangenen Jahr erschienen jede Woche gleich mehrere deutschsprachige Artikel zum Thema "Digtal Detox". Und oft, zu oft, wird das Digitale darin als Schadstoff identifiziert, den es zu reduzieren gilt. Erst dann könne man sich wieder echten Erfahrungen zuwenden, erst in dieser Abkehr könne man den Albert Einstein oder die Simone de Beauvoir in sich finden.

Natürlich war es vor ein paar Jahren noch einigermaßen üblich zu fragen, wie viele Stunden am Tag das Gegenüber denn online war. Heute ergibt die Frage keinen Sinn mehr. Offline ist ein fehlerhafter Zustand, der sich nur ergibt, wenn das DSL streikt oder man im Zug sitzt.

So manifestiert sich in der Digital-Detox-Bewegung ein konservatives - nein, reaktionäres - Verständnis der Welt. Die Erfahrungen der physischen Welt werden überhöht und fast mit einer moralisch-religiösen Wertigkeit versehen - im Gegensatz zur "unechten" Online-Welt, die nur niedere Instinkte bedient. Doch die Trennung in "echte Welt" und "unechte Online-Welt" ist nicht erst 2019 absurd geworden.

Denn das Internet, das Digitale, ist real; die echte Welt ist sowohl analog als auch digital. Natürlich kann man so tun, als seien reale Erfahrungen nur in der haptisch fassbaren Welt möglich. Aber weshalb die Erfahrung des Wartens im Supermarkt einem Whatsappchat überlegen sein soll, will sich nicht ganz erschließen.

Unsere Erfahrungen in digitalen Systemen sind heute zu großen Teilen sozial. Beziehungen und Interaktionen sind anders strukturiert als bei analogen Treffen, das macht sie aber nicht weniger wertvoll. Gute Freundschaften entstehen online zwischen Menschen, die sich möglicherweise nie treffen werden. Ebenso wie Feindschaften. Die Debatte um Hassreden ist ja deshalb so wichtig, weil Übergriffe im Netz immer auch echte Übergriffe auf eine Person oder Gruppe bedeuten, mit oft verheerenden Folgen für die Betroffenen.

Die Gefühle von Überforderung, Stress und Isolation, die durch die internetkritische Bewegung dem Digitalen zugeschrieben werden, haben oft andere Gründe: die Entgrenzung von Privatleben und Arbeit etwa. Viele sehen sich gedrängt, auch nachts Arbeitsmails zu beantworten. Ein weiterer Stachel dürfte der kapitalistische Zwang sein, sich als menschliches Produkt am Markt zu platzieren. Hier wird das Digitale zum Hebel jener strukturellen Kräfte, die auch im analogen Alltag Stress bedeuten. Diese gab es aber auch in vordigitalen Zeiten.

Digital Detox versucht, gesellschaftliche Probleme durch Askese des Einzelnen zu beheben. Doch der Wunsch, zu einer einfacheren Welt zurückzukehren, ist naiv - und nicht harmlos. Die Realität des Digitalen zu verleugnen delegitimiert reale Erfahrungen und reale Beziehungen. Von der Kita bis hin zu Migräne-Selbsthilfegruppen und "Fridays for Future": Die Zivilgesellschaft funktioniert heute nicht zuletzt über ein digitales Miteinander. Kollektiv das Handy wegzulegen und sich dem bewussten Erleben einer überfüllten S-Bahn hinzugeben, wird das Leben nicht plötzlich erfüllt und glücklich machen.

Über den Umgang mit all den brummenden und piependen Geräten muss der moderne Mensch immer wieder nachdenken: Etwa indem er entscheidet, an welchen sozialen Medien er wie teilnimmt oder welchen Apps er erlaubt, ihn mit Benachrichtigungen abzulenken. Die Handygesellschaft muss Normen und Strategien finden, um sich selbst vor Stress und Entgrenzung zu schützen - zum Beispiel, indem der Arbeitsmailserver nach Feierabend einfach keine Mails mehr zustellt. Aber weglaufen, die Zeit zurückspulen, zurück in die Achtzigerjahre, das ist keine Lösung.

Jürgen Geuter, 39, ist Informatiker und Autor.

© SZ vom 31.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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