Gastbeitrag:Mehr als ein Denkzettel

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Die Bürger sollten die Europwahl nutzen, um in der EU mitzuentscheiden. Denn das Europaparlament hat sich über die Jahrzehnte die Rechte eines vollwertigen Parlaments erkämpft.

Von Christoph Vedder

Die Europäische Union ist nur so handlungsfähig, wie ihre Mitgliedstaaten dies zulassen. Wer von der EU enttäuscht ist, sollte daher das Europäische Parlament als einziges direkt demokratisch gewähltes Organ im Machtdreieck von Kommission, Rat und Parlament stärken. Die EU prägt unser Leben, aktuell etwa bei Datenschutz, Verbraucherschutz, sozialer Sicherheit, Umweltschutz, Telekommunikation - von Rechtsstaatlichkeit und Frieden gar nicht zu reden. Sie dient den Interessen ihrer Bürger. Es ist nicht nur Symbolik, wenn das EU-Parlament seit dem Vertrag von Lissabon als Vertretung "der Unionsbürger" und nicht mehr "der Völker" bezeichnet wird. Wählen heißt mitentscheiden.

Die EU ist mit 520 Millionen Einwohnern die drittgrößte politische Einheit der Welt. Sie muss in Konkurrenz zu China, den USA und Russland die globalen Herausforderungen meistern. Sie übt ihr von den Mitgliedstaaten übertragene wichtige Zuständigkeiten aus und braucht daher nicht nur demokratische Legitimation und Kontrolle, sondern auch politische Anstöße und Ideen - auch dies ist eine Funktion eines Parlaments. Eine starke EU braucht ein selbstbewusstes Parlament.

Die EU wird auf zwei Wegen demokratisch legitimiert: unmittelbar durch das von den Bürgern gewählte Parlament; mittelbar über die im Ministerrat wirkenden Minister aus den Mitgliedstaaten, die ihrerseits mittelbar - in Deutschland durch die Wahl zum Bundestag - legitimiert sind. Das Europaparlament und der Rat wirken bei der Gesetzgebung der EU gleichberechtigt zusammen: als Zwei-Kammer-System wie in vielen Staaten.

Bei den wichtigen Aufgaben der EU bestimmen die Abgeordneten alle Gesetze mit

Das Regierungssystem der EU hat sich parlamentarisiert. Seit 2014 wird der Präsident der EU-Kommission vom Parlament gewählt, auch die Kommission als Ganzes bedarf dann der Zustimmung der Abgeordneten. Seit 2014 wählen die Bürger über "Spitzenkandidaten" de facto indirekt den Kommissionspräsidenten - nicht viel anders als in Deutschland den Bundeskanzler. Die Staats- und Regierungschefs sind bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten zwar nicht an das Wahlergebnis gebunden, politisch können sie sich aber nur schwer darüber hinwegsetzen.

Das Europaparlament ist also, entgegen manchen Vorurteilen, wichtig - und zu wichtig für eine Denkzettel-Wahl. Seit der ersten direkten Wahl vor 40 Jahren hat es sich immer mehr Befugnisse erkämpft. Seit 2009 entscheidet es im "ordentlichen Gesetzgebungsverfahren" gleichberechtigt mit dem Rat mit. Bei den wichtigen Aufgaben der EU kommt also kein Gesetz ohne Zustimmung des Parlaments zustande. Wo eine solche nicht erforderlich ist, nimmt es "Stellung". Seine Stellungnahmen sind rechtlich nicht verbindlich, die anderen EU-Organe können sie aber politisch nicht übergehen.

Auch wenn die EU-Abgeordneten in den Mitgliedstaaten nach nationalen Quoten gewählt werden - 96 in Deutschland -, agiert das Parlament nicht nach nationalen Gruppierungen, sondern nach politischen Fraktionen, in denen sich staatenübergreifend politisch nahestehende Parteien zusammentun. Derzeit gibt es neun Fraktionen. Die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten zusammen haben bisher die absolute Mehrheit - nach der Wahl am 26. Mai aber wohl nicht mehr. Es wird zu Koalitionen kommen. Das Parlament ist so der Ort gelebter europäischer Integration par excellence.

Schon lange ist das EU-Parlament nicht mehr Austragshäusl verdienter Altpolitiker, sondern Forum ambitionierter Europapolitiker. Von einer "Beratenden Versammlung", die aus Delegierten der nationalen Parlamente bestand, hat es sich zum vollgültigen Parlament, Gegengewicht der Mitgliedstaaten im Rat und zur Kontrolle der Kommission emanzipiert.

Bei der Wahl zum Europaparlament hat jeder EU-Bürger eine Stimme. Nicht jedoch hat jede Stimme ein gleiches Erfolgsgewicht. Ein in Deutschland gewähltes Mitglied des EP vertritt rund 855 000 Bürger, ein Abgeordneter aus Malta nur 70 000. Die Stimme eines Maltesers hat also größeres Gewicht. Dies wird immer wieder kritisiert. Ein gleiches Stimmgewicht aller Wähler ist jedoch auf europäischer Ebene nicht realisierbar. Wollte man, ausgehend von den derzeit sechs Abgeordneten aus Malta, den maltesischen Vertretungsfaktor auf alle Mitgliedstaaten anwenden, so müsste das Europäische Parlament auf 7563 Abgeordnete anwachsen, davon 1260 aus Deutschland. Selbst wenn Malta nur einen Abgeordneten hätte, bestünde das EP nicht mehr wie heute aus 751, sondern aus 1262 Mitgliedern, davon 410 aus Deutschland.

Die Zahl der Europaabgeordneten pro Mitgliedstaat folgt dem Prinzip der "degressiven Proportionalität". Es verhindert, dass die Abgeordneten aus wenigen großen Mitgliedstaaten eine Mehrheit erlangen. Die Mindestzahl von sechs Abgeordneten pro Staat bewirkt zudem, dass auch die in kleinen Mitgliedstaaten Gewählten das politische Spektrum ihres Landes und nicht nur die Regierungspartei vertreten. Diese Grundentscheidung und das Bedürfnis, die Größe des EU-Parlaments nicht ausufern zu lassen, rechtfertigen eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit, die in der Europäischen Grundrechte-Charta auch nicht garantiert wird. Das EU-Parlament ist daher nicht undemokratisch, wie behauptet wird.

Falls jedoch künftig doch ein gleiches Erfolgsgewicht aller Stimmen angestrebt werden sollte, so ließe sich das nur durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit europäischen Parteien, transnationalen Listen und grenzüberschreitenden Wahlkreisen verwirklichen. Europawahlen nach einem in der EU einheitlichen Wahlrecht, wie sie in den EU-Verträgen ursprünglich vorgesehen wurden, sind bisher Utopie geblieben.

Der Erfolg der britischen Brexit Party bei der Europawahl wird am Ende verpuffen

Bei Europawahlen geht es um das, was die EU tun kann oder soll. Sie sind kein Plebiszit über nationale Regierungen oder Themen. Auch für Fundamentalopposition gegen die EU ist dieser Wahlkampf der falsche Ort. Das Europaparlament nimmt allein europäische Aufgaben wahr. Der britische Abgeordnete Nigel Farage konnte dort nichts für den Brexit tun. Die Europawahl 2019 wird im Vereinigten Königreich allerdings verständlicherweise zur Abstimmung über den Brexit und die regierende politische Klasse umfunktioniert.

Nach dem in London aufgeführten Shakespeare'schen Drama beschert uns der Brexit eine - rechtlich unausweichliche - weitere Absurdität. Das Vereinigte Königreich nimmt an den Europawahlen teil. Die so gewählten Abgeordneten werden jedoch je nachdem, wann der Brexit stattfindet, ihr Mandat gar nicht erst antreten oder sie beteiligen sich noch an der Fraktionsbildung und der Wahl von Kommissionspräsident und Kommission, scheiden aber am Tag des Brexits, spätestens am 31. Oktober 2019, dem Tag vor Amtsantritt der neuen Kommission, aus. Der zu erwartende Erfolg von Farages Brexit Party verpufft, jedenfalls in Europa.

Wer am 26. Mai nicht oder aus Protest wählt, sollte nicht über den Zustand der EU klagen. Wer etwas in ihr kritisch verbessern möchte, darf sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Wählen heißt mitgestalten. Und: Europa muss sich wieder seiner Zukunft zuwenden.

Christoph Vedder, 71, lehrte als Professor für Europa-, Völker- und Öffentliches Recht in Augsburg.

© SZ vom 17.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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