Gastbeitrag:Lebensphase Sterben

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Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Wir können nicht über den selbstbestimmten Tod reden, und von Solidarität schweigen. Ein Plädoyer.

Von Franz Müntefering

Angeblich wird Sterbehilfe bald erlaubt. In Wahrheit wird sie tagtäglich praktiziert: Hospizlich-palliativ bei weniger als zehn Prozent, oder zu Hause, in Heimen, in Krankenhäusern. Hier agieren Verwandte, Spezialisten, Pflegekräfte, Ärzte als Sterbehelfer. Sie verdienen Lob und Dank. Aber im hospizlichen Bereich gibt es erhebliche Lücken im Angebot, Pflegekräfte sind überlastet. Und die, die zu Hause pflegen, bräuchten dringend mehr finanzielle und tatkräftige Unterstützung. Das ist Sterbehilfe 2020 konkret.

Deshalb ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enttäuschend. Denn es macht einen großen Bogen um die zentrale Frage: Was bedeutet es, menschenwürdig zu sterben? Stattdessen stellt es die Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt. Es betont bedingungsloses Recht auf Selbsttötung - und sagt damit nichts Neues. Denn versuchter Suizid ist nicht strafbar in Deutschland.

Das Urteil lässt geschäftsmäßige Hilfe zum Suizid zu, verzichtet auf Begründung, eröffnet dem Gesetzgeber Gestaltungsmöglichkeiten, die natürlich dem Prinzip Selbstbestimmung nicht widersprechen. Was ist zu tun? Ein Gericht kann zwar ein Gesetz schreddern, aber ein Gesetzgeber auch ein Urteil. Doch das Thema ist für Kräftespiele nicht geeignet. Sterbehilfe bedeutet nicht, dass es einfacher wird, den Tod geschäftsmäßig zu organisieren. Kümmern wir uns um das Leben und auch um dessen letzten Teil. Denn es ist nicht egal, wie Menschen sterben.

Etwa 950 000 Menschen sterben jährlich in Deutschland, Tendenz aus demografischen Gründen steigend. Rund 30 000 sterben versorgt in stationären Hospizen. Andere palliativ-bedürftige in Krankenhäusern, in Heimen oder zu Hause. Die meisten aber sterben "normal", wenn das Wort hier zumutbar ist. Es starben noch nie so viele, und vor allem Alte. Die Faktoren Demenz, Gebrechlichkeit und Verletzlichkeit spielen eine größere Rolle als je zuvor. Der Lebensabschnitt "Sterben" wird kompakter und komplexer und fordert neue Antworten: Lassen sich Gefahren eindämmen, die Menschen die Lust aufs Leben verleiden? Müssen Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung obligatorisch werden und größeres Gewicht bekommen für die Praxis der Sterbebegleitung? Was können wir gegen Einsamkeit mitten in der Gesellschaft tun?

Ohne belastbares Vertrauen in unsere Ärzteschaft und deren qualifiziertes Bemühen, Selbstbestimmung zu respektieren und die bestmögliche zulässige Sterbehilfe zu leisten, lässt sich keine Praxis sichern, die den Willen der Patienten beachtet und ihr Wohl berücksichtigt.

Sterben hat oft eine Vorgeschichte: soziale Kontakte, die einen auch in der Phase des Sterbens im Rahmen des Möglichen Teil der Familie, Gruppe, Menschheit bleiben lassen. Erinnerung an das eigene Leben und Respekt davor - bei sich und anderen. Der Verweis auf die Autonomie und die Verknüpfung mit der Geschäftsmäßigkeit helfen nicht. Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben auch im Sterben hängt vor allem von der Solidarität zwischen den Menschen ab. Besserung ist nötig. Jeder Mensch sollte erfahren können, dass andere mit ihm leben wollen. Man weiß, das klappt nicht immer. Aber den Ehrgeiz sollten wir als Gesellschaft doch haben, dass möglichst wenige den Wunsch entwickeln, nicht mehr mit uns zu leben.

Franz Müntefering war Bundestagsabgeordneter, Minister und zweimal SPD-Vorsitzender.

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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