Gastbeitrag:Herzen und Hirne

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Die deutsche Bildungspolitik ist bequemlich und hat den falschen Fokus. Fünf Ideen für eine klügere Schule.

Von Klaus Zierer

Schon bevor die enttäuschenden Ergebnisse der Pisa-Studie bekannt wurden, hatte eine Reihe von Vergleichsstudien in den vergangenen Monaten bestätigt, was schon länger bekannt ist: Trotz hoher Investitionen tritt das Bildungssystem auf der Stelle. Die Leistungen stagnieren. Das Einzige, was sich als erfolgreich erweist, ist Beständigkeit. Reformen hingegen verpuffen.

In mindestens fünf Feldern lassen sich Gründe des Scheiterns finden. Genau dort findet man auch Ideen, wie Schulen nicht nur tatsächlich gebildete Bürgerinnen und Bürger hervorbringen, sondern auch mehr Chancengerechtigkeit.

Erstens die "Digitalisierte Gesellschaft": Auch wenn es in vielen Bereichen unumgänglich erscheint, die Digitalisierung voranzutreiben, für unser Zusammenleben, für unsere Kultur, für unsere Bildung ist sie nicht nur positiv zu bewerten. So wissen wir, dass nahezu alle Jugendlichen ein Smartphone besitzen und mit diesem durchschnittlich vier Stunden am Tag im Internet unterwegs sind. Alles kein Problem für die Schule? Doch, denn das Ablenkungspotenzial ist immens, Mobbing erhält eine neue Dimension, die Zeit fürs Lernen wird reduziert, und die Zugangsweisen zum Lernen verändern sich. Dadurch wird nicht nur erschwert, dass Jugendliche heute Goethe und Schiller verstehen. Es wird auch erschwert, dass Jugendliche heute Goethe und Schiller überhaupt lesen können. Sodann geht der Bildungswert der Langeweile verloren: Wer keine Sekunde seines Lebens mehr nachdenken muss, was sich mit dem Leben so anfangen lässt, weil ständig und jederzeit eine Ablenkung möglich ist, der kommt nicht auf dumme Gedanken - und ebenso wenig auf kluge. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Heute ist nicht alles schlechter. Aber heute ist vieles anders. Und das erfordert, dass wir genauer hinschauen: Nicht jeder muss programmieren lernen, vielmehr bedarf es einer Koalition aus Schule und Elternhaus, die sich einer aufgeklärten, engagierten Medienerziehung annimmt.

Die Unterrichtsqualität wird nicht gleich besser, wenn alle Lehrkräfte ein Tablet und mehr Geld erhalten

Zweitens "Ablenkungspolitik". Seit Jahren geht Bildungspolitik den Weg des geringsten Widerstandes. Urteilskraft und Tatendrang werden schmerzlich vermisst, wenn es nach einem Wahlsieg wieder einmal lautet, dass Schule durch höhere Lehrergehälter oder mehr digitale Klassenzimmer verbessert werden soll. Diese Vorschläge haben ihre Berechtigung, aber sie lenken auch ab. Denn die Unterrichtsqualität ist entscheidend und sie wird eben nicht automatisch dadurch verbessert, dass Lehrpersonen mehr Geld verdienen oder alle ein Tablet bekommen. Strukturen schaffen und Menschen stärken, muss es heißen. Das Erste wird mit Vorliebe gemacht, weil es einfacher ist und schneller geht. Das Zweite muss hinzukommen und bedeutet: Schulische Handlungsräume schaffen, in denen es nicht um Einzelkämpfer geht, sondern um Teamspieler.

Drittens "Verkopfung von Schule": Wer weiß, wie viele Halligen es gibt? Wer weiß, wie viele Wirbel der Lendenbereich hat? Und wer weiß, aus wie vielen Büchern die Bibel besteht? Die Antworten auf solche Fragen stehen im Zentrum der Schulbildung, prasseln sie als Stegreifaufgaben auf Lernende herab. Und so lautet eines der dramatischsten Ergebnisse der letzten Jahre: Während Lernende in der ersten Jahrgangsstufe noch zu 99 Prozent angeben, gerne zur Schule zu gehen, sinkt die Zustimmung kontinuierlich bis zu einem Wert von etwa 35 Prozent in der neunten Jahrgangsstufe. Die nach dem Autor der Studie benannte Jenkins-Kurve veranschaulicht eindringlich, dass Schule ihr zentrales Ziel umfassend verfehlt: Schülern Freude am Lernen zu vermitteln. Lernende, die nicht wissen, warum sie etwas lernen, finden keinen Sinn darin. Lehrpläne heute sind mit Wissen überfüllt, das aus fachlicher Sicht wichtig sein mag, für den Bildungsweg eines Menschen aber unnütz ist. Eine bekannte Feststellung, gewiss, die aber deswegen nicht überholt ist. Eine Entrümpelung der Lehrpläne ist unabdingbar - nicht um Schule leichter zu machen, sondern herausfordernder, weil sinnvoller. Und mehr Kunst, Musik und Sport auf Kosten der Kernfächer.

Der Nutzen von Forschung für die Gesellschaft muss deutlicher werden - damit Schülerinnen und Schüler ihn verstehen

Viertens "Professionalisierung der Lehrerbildung":Lange Zeit ging es bei den Reformen im Bildungsbereich darum, an den Strukturen zu drehen. Heute weiß man es besser - entscheidend für Bildungserfolg ist Lehrerprofessionalität. Konsequenterweise wird nun dank der Qualitätsoffensive kräftig in die Lehrerbildung investiert. So erfreulich das ist, vieles, was auf den Weg gebracht wird, verfehlt das Ziel. Denn immer mehr mutieren Lehramtsstudierende zu Nachwuchsforschenden und lernen von der Pike auf, was es heißt, Forschung zu betreiben. Dabei wird übersehen: Lehrpersonen müssen keine Forschende sein, wohl aber Evaluatoren. Sie müssen beispielsweise nicht Messinstrumente entwickeln können, was Aufgabe der Wissenschaft ist, sondern diese einsetzen können, um tagtäglich ihre Wirksamkeit sichtbar zu machen. Insofern zeigt sich Professionalität nicht an einem Mehr oder Weniger an Forschung oder Praxis. Es sind Haltungsfragen, die entscheidend sind: Was verstehe ich unter Bildung, was unter einer guten Schule und was ist meine Vision von einer demokratischen Gesellschaft? Professionalität von Lehrpersonen hat folglich einen ethischen Kern, der in der Lehrerbildung immer und immer wieder anzusprechen ist.

Fünftens die "Wissenschaft im Elfenbeinturm": Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine scheinbar bahnbrechende Studie publiziert wird. Die Forschungsaktivitäten sind selbst für Insider kaum zu überblicken. Zur Verdeutlichung: "Visible Learning" von John Hattie, einst als Meilenstein der Erziehungswissenschaft gefeiert, weil es den großen Forschungsfundus zusammenfasste, basierte 2009 auf über 800 Meta-Analysen mit über 50 000 Einzelstudien. Heute, zehn Jahre später, umfasst der Datensatz 1600 Meta-Analysen mit über 95 000 Einzelstudien. Forschung geht immer stärker in die Tiefe, und die Erkenntnisse werden immer spezieller. Allerdings ist Folge dieses Bestrebens ein Transferdefizit: Je spezialisierter und detailreicher Forschung ist, desto weniger lässt sie sich übertragen. Der Nutzen wird vertagt. Damit können Lehrpersonen wiederum nichts anfangen, weil sie tagtäglich unterrichten müssen. Solange aber die Veröffentlichung eines Artikels in einem Top-Journal mit einer Handvoll Lesern eine größere Reputation zur Folge hat als eine Lehrerhandreichung mit einer Zehntausender-Auflage, so lange wird sich in diesem Punkt nichts ändern. Die Frage des Transfers als Teil von Wissenschaft zu sehen, ist ebenso notwendig wie Hochschullehrende in der Schulpädagogik mit Schulerfahrung aus erster Hand - damit sie das, worüber sie schreiben, nicht nur aus Büchern kennen und die Sprache der Praxis vor Augen haben, wenn sie forschen.

Wie lässt sich also ein Erfolg der hohen Investitionen herbeiführen? Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Vision von Bildung - die im Kern gar nicht so neu, wohl aber in Vergessenheit geraten ist. Denn schon in der Bayerischen Verfassung heißt es: Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.

Klaus Zierer ist Professor für Erziehungswissenschaften und Ordinarius an der Universität Augsburg.

© SZ vom 13.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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