Gastbeitrag:Die Polin bleibt!

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Welches Kind will weg von zu Hause in die Kita, noch bevor es sprechen kann? Welche alten Menschen wollen ins Heim? In der marktgerechten Familie werden alle Sorgen outsourct. Doch wer so lebt, dem mangelt es an innigen Bindungen und Zeit füreinander, die nicht aus Zeitfenstern und Modulen besteht.

Von Silke Niemeyer

Neulich bei der Demo für mehr Betreuungsplätze in Berlin. Eltern schieben ihr Kind im Buggy vor sich her. Es kann noch nicht sprechen, aber offenbar schon schreiben. "Ich will in die Kita", hat es auf ein Plakat gepinselt und sich in den Wagen gesteckt. In ein paar Jahren wird es vielleicht andere Eltern-Kind-Demos geben. Da schieben die Kinder ihre alten und dementen Eltern in Rollis vor sich her, in denen Plakate stecken mit der Aufschrift: "Ich will ins Altenheim."

Zynisch? Nicht zynischer als die Realität, die solche Bilder spiegeln. Welches Kind will weg von zu Hause in die Kita, noch bevor es sprechen kann? Welche alten Menschen wollen weg von zu Hause ins Heim? Welche Eltern finden es prima, ihren Schatz den ganzen Tag nicht zu sehen und sich von der Erzieherin erzählen zu lassen, wie Mia sich heute gefreut hat, die ersten Schritte zu machen? Welcher Sohn, welche Tochter hört leichten Herzens die Bitte "Nehmt mich doch mit", wenn man sich von der alten Mutter im Heim verabschiedet? Keiner, hoffentlich.

Ist das das Leben, das wir uns aussuchen würden, ein Leben, in dem man befreit ist von der Pflege der Jungen und der Alten? Schöne neue Freiheit, die Freiheit der marktgerechten Familie, die die Sorge outsourct. "Die Polin" ist zur Chiffre für diese prekäre Freiheit geworden: "Ah, Sie haben auch eine Polin. Bei welcher Agentur haben Sie sie bezogen?" Bei allem Getöse um geschlossene Grenzen für Migranten steht eines fest: Die Polin bleibt! Und wenn die Polin eine Rumänin ist, auch gut. Hauptsache, sie ist bezahlbar.

Die alten Zeiten waren keine guten, keine goldenen Zeiten. Aber es waren Zeiten, in denen jemand da war im Haus und für die sorgte, die Sorge brauchen, die Kinder und die Alten und vielleicht auch die behinderte, ledige Schwester. Jemand? Natürlich die Frauen, galt das doch als ihre natürliche Aufgabe. Mit dem zweiten X-Chromosom schien ihnen ein Kümmergen eigen zu sein. Dieses soziale Gen jedenfalls generierte das, was Leben eigentlich ausmacht und das Zusammenleben zusammenhält. Es generierte die lebensnotwendigen Bindungen, ohne die kein Mensch existieren, geschweige denn glücklich werden kann. Alles, natürlich, für Gotteslohn. Und der zahlt nicht in barer Münze. Die Diskussionen um den Pflegenotstand und mangelnde Kita-Plätze sind zwei Seiten dieser nicht ausgezahlten Münze. Am Ende des Lebens ist es wie am Anfang, es ist keiner da, der sorgt.

Das Sorgen braucht Zeit, und die wird von der gegenwärtigen Ökonomie aufgefressen wie das Erdöl. Sie zwingt Frauen wie Männer dazu, einen immer größeren Batzen in den Rachen der Erwerbstätigkeit zu werfen und verschlingt damit Stunden und Jahre, die sie fürs Kümmern frei haben könnten. Es ist der große Betrug und Selbstbetrug dieser Ökonomie, dass sie Familien immer mehr das Zuhause raubt: die innigen Bindungen, die Zeit füreinander, die nicht aus Zeitfenstern und Modulen besteht.

Was wir brauchen: eine Diskussion, die die Pflege am Anfang, am Ende und in der Mitte des Lebens zusammen denkt. Und wir brauchen Gewerkschaften, die wieder kürzere Arbeitszeiten auf ihre Fahne schreiben. In Pflege steckt immer ein Stück Zeitvergessenheit, Aufopferung und Hingabe. Es ist der Kern des Menschlichen. Wer ihn marktgängig machen will, riskiert die humane Kernschmelze.

Silke Niemeyer, 54, ist evangelische Pfarrerin.

© SZ vom 16.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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