Gastbeitrag:Balthus und die Mädchen

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Kunst hat besondere Freiheiten. Doch streiten muss man über Werke.

Von Wolfgang Ullrich

Was für ein Skandal, als das New Yorker Metropolitan Museum 2017 in einer Petition aufgefordert wurde, das Gemälde "Träumende Thérèse" von Balthus zu entfernen. Dass ein sehr junges Mädchen sexuell aufreizend zu sehen sei, wirke verstörend. Jetzt ist das 1938 gemalte Bild selbstverständlicher Teil einer Balthus-Retrospektive in Basel. Warum konnte ein Kunstwerk, das jahrzehntelang unbeanstandet im Museum hing, überhaupt zum Streitfall werden?

Das hat mit veränderten Sehgewohnheiten in Zeiten der Digitalisierung zu tun. Seit es Tablets und soziale Medien gibt, werden Kunstwerke, Werbung, Pornos, Privatfotos auf denselben Bildschirmen angeschaut, auf die gleiche Weise wahrgenommen. Warum sollte man für die Kunst dann aber andere Maßstäbe gelten lassen als im täglichen Leben, sollte ihr die Freiheit der Fantasie lassen? Nein, auch hier greift in Augen mancher Betrachter die "Me Too"-Debatte, die Museen nun sogar eine Vorbildfunktion abverlangt. Im Fall von Balthus gab es Stimmen, die sagen, Kunst sei immer nur ein Privileg weniger gewesen, die damit ihre Sicht der Welt für sakrosankt erklärt und zum Nachteil anderer durchgesetzt hätten.

In einer offenen Gesellschaft kommen viele, die bisher nicht angemessen repräsentiert waren, endlich zu Wort. Und die Globalisierung führt dazu, dass es auch andere Kunstauffassungen gibt als die spezifisch westlich-kunstreligiöse, aus der heraus bisher eine Ausnahmestellung der Kunst begründet wurde. Debatten über einzelne Werke wird es künftig noch mehr geben. Und warum nicht? Statt pauschal Absolution zu genießen, sollte Kunst von Fall zu Fall neu beweisen, ob für sie eigene Kriterien gelten dürfen. Wie jetzt bei Balthus.

Wolfgang Ullrich , 51, ist Kulturwissenschaftler und freier Autor in Leipzig

© SZ vom 08.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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