Gastbeitrag:Abgekühlte Sehnsucht

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Kirchen und Dome gehören zum Standardprogramm vieler Touristen. Dabei finden manche Urlauber Transzendenz am Wegesrand.

Von Petra Bahr

"Und was habt ihr so in den Ferien gemacht?" - "Strand, gutes Essen und jede Menge Kirchen." Die Italienurlauberin presst drei Wochen in diesen kurzen Satz. Jede Menge Kirchen, das gehört immer noch zum Ferienprogramm vieler Urlauber. Sie stehen geduldig an, um sich in Zweierreihen durch europäische Dome und Kathedralen zu schieben. Sie ziehen sich Polyestertücher über die nackten Schultern, senken die Stimme und treiben ihre Kinder vom Altar in die Krypta. Sie recken die Hälse, um den Gottvater zu bestaunen und lauschen klaglos dem Audioguide. In der ersten Reihe betet inbrünstig eine alte Frau. Das Selbstverständlichste, das sie tut, wirkt wie eine Attraktion, zu der man nicht hinsehen darf, ein leibhaftes Tabu, das Betretenheit auslöst.

Was ist es nur, das die Reisenden in die Kirchen treibt, in denen Mönchschöre von knarzenden Bändern singen und die Souvenirshops größer als die Beichtstühle sind? Ruhe kann es nicht sein; es ist nur sehr früh oder sehr spät am Tag still in den Kirchenschiffen. Der Duft von Weihrauch wird von Schweiß und Sonnencreme überlagert. In allen Sprachen der Welt wird gemurmelt, bewundert. Vielleicht ist es die Kühle, die nicht nur vor der Gluthitze dieses Sommers schützt, sondern auch aus der Vergangenheit kommt, eine abgekühlte Sehnsucht nach einem Glauben, der verloren gegangen ist? Ein paar Momente in der letzten Bank, die Erinnerung an ein Gebet wie an ein längst vergessenes Versprechen. Die Augen kurz geschlossen, auch das Kameraauge, das sich sonst nie schließt. Allein mit den Sorgen, die mitgereist sind - oder der Dankbarkeit. Kathedralen und Kapellen am Wegrand öffnen immer noch einen Raum für eine Transzendenz, die keine Geschichte hat, zwischen Strand und Aperol Spritz.

Petra Bahr, 53, ist evangelische Landessuperintendentin in Hannover.

© SZ vom 03.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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