G-20-Krawalle in Hamburg:Die Mitläufer und der Landfrieden

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Bereits 120 Gerichtsverfahren zu den Hamburger Krawallen im Juli 2017 sind inzwischen abgeschlossen. (Foto: Markus Scholz/dpa)

Der Grundsatz-Prozess zu den Ausschreitungen vor zwei Jahren dauert länger als gedacht. Die Suche nach der Wahrheit ist kompliziert.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Es gab mal die Aussicht, dass an diesem Freitag eine Entscheidung fällt. Denn der Freitag, 10. Mai, stand als letztes Datum auf der Terminrolle zum Verfahren gegen fünf junge Männer, die während des Hamburger G-20-Gipfels im Juli 2017 an den Ausschreitungen auf der Elbchaussee beteiligt gewesen sein sollen. Aber der Zeitplan gilt nicht mehr.

Dieser Freitag wird ein Termin wie jeder andere sein in diesem symbolträchtigen Prozess vor dem Landgericht Hamburg, in dem es auch um die Grundsatzfrage geht, ob man schon als Mitläufer eines eskalierenden Protestmarsches wegen Landfriedensbruchs, Brandstiftung, gefährlicher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz verurteilt werden kann. Die Suche nach den Wahrheiten des Krawalls ist komplizierter, als die Staatsanwaltschaft dachte. Die Urteilsverkündung ist frühestens im September zu erwarten. Mehr Zeugen werden für die Beweisaufnahme gebraucht. Die Polizeiermittlungen reichen nicht.

Die Aufarbeitung des G-20-Gipfels ist auch fast zwei Jahre später noch ein Thema in der Hansestadt. Genauer gesagt der Krawall, der das Treffen der 20 bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer überschattete, hohen Sachschaden verursachte und die Bevölkerung verängstigte. Gerade besagter Prozess weckte Aufmerksamkeit, als er im Dezember begann, weil er beispielhaft für den Anspruch des Staates stand, die vermummten Straftäter aus dem linksextremen Lager zu bestrafen. Und jetzt, da sich herausstellt, dass das Gericht die Anklage genauer prüfen will, wirft er wieder Fragen auf. Was genau treibt Polizei und Staatsanwaltschaft bei den G-20-Fällen? Nüchterner Ermittlergeist? Oder der Bedarf an Erfolgen?

Olaf Scholz versprach nach dem Gipfel: "Wir werden als Stadt auf die Gewaltexzesse reagieren"

Die neueste Entwicklung im Elbchaussee-Prozess wäre zunächst gar nicht bekannt geworden, wenn der NDR nicht darüber berichtet hätte. Die Kammer habe die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung ausgeschlossen, weil der Applaus von den Zuhörerbänken einen schlechten Einfluss auf jene beiden Beschuldigten haben könne, die zur Zeit des Gipfels minderjährig waren. Aber der NDR zitierte aus einem Beschluss, in dem die Kammer unter der Vorsitzenden Richterin Anne Meier-Göring begründete, warum die Angeklagten jeweils einen weiteren Pflichtverteidiger brauchen. Die polizeilichen Ermittlungen erscheinen dabei in keinem guten Licht. Manche Zeugen hätten Aussagen aus Polizeivermerken bestritten und sogar als "Quatsch" bezeichnet. Gerichtssprecher Kai Wantzen bestätigt, dass die Kammer mehr Zeit für die Beweisaufnahme braucht.

Das ist nicht wirklich ungewöhnlich. Aber die G-20-Prozesse sind eben sensibel. Es gilt die Ansage des damaligen Bürgermeisters Olaf Scholz, der nach dem Gipfel versprach: "Wir werden als Stadt auf die Gewaltexzesse reagieren." Seither arbeiten Polizei und Staatsanwaltschaft mit seltener Akribie an der Suche nach Flaschenwerfern und anderen handgreiflichen Protestierern.

Die Polizei setzt sogar umstrittene Software zur Gesichtserkennung ein

Mehrere Öffentlichkeitsfahndungen nach mutmaßlichen Straftätern hat es schon gegeben. Trotz Einwänden des Hamburger Datenschutzbeauftragten setzt die Polizei eine umstrittene Gesichtserkennungssoftware ein. Das Ergebnis? Anfang des Jahres meldete die Innenbehörde, 3490 Strafverfahren seien eingeleitet worden. "In 790 Fällen konnten ein oder mehrere Beschuldigte ermittelt werden." Mehr als 120 Verfahren sind mittlerweile abgeschlossen, einige endeten mit Haftstrafen. Der Reigen der Prozesse geht weiter. Allein in den ersten drei Monaten des neuen Jahres haben 17 weitere begonnen.

Übertreibt es der Staat mit dieser Offensive? Überlastet er die ohnehin schon ächzende Justiz?

Zumindest auf Letzteres kann der Gerichtssprecher Wantzen antworten. Er sagt: "Kommt drauf an." Außer dem Elbchaussee-Prozess finden alle Verfahren am Amtsgericht statt. "Bei über 12 000 Amtsgerichtsverfahren im Jahr fallen die G-20-Verfahren im Grunde nicht ins Gewicht", sagt Wantzen. Aber manche Verfahren ziehen sich ungewöhnlich lange hin, weil sie "von den Verfahrensbeteiligten hoch streitig und teils politisierend ausgetragen werden", wie Wantzen es etwas umständlich ausdrückt. "Das bedeutet für die Richter eine enorme Belastung."

Die vielen Verfahren wirken wie eine groß angelegte Kraftprobe des Staats im Kampf gegen linksextreme Systemkritiker. Und die Politik bewertet sie ziemlich unterschiedlich. Dennis Gladiator, der innenpolitische Sprecher der Hamburger CDU-Fraktion, findet nicht, dass der Staat übertreibt, im Gegenteil: "Nur so kann der starke Rechtsstaat zeigen, dass er sich nicht an der Nase herumführen lässt." Antje Möller, Gladiators Pendant bei den Grünen, klingt anders. Sie plädiert für "sorgfältige und umfassende Aufarbeitung": "Es kann bei den Gerichtsverfahren nicht um das Erreichen einer Art Quote bei Urteilen gehen, schon gar nicht darf einer öffentlichen Stimmung gefolgt werden." Die Beweislagen seien kompliziert, "die schwierigste Aufgabe fällt dabei den Gerichten zu, nämlich in jedem Einzelfall ein angemessenes und gerechtes Urteil zu fällen".

Und Christiane Schneider von der Linken-Fraktion ringt erst recht um ihre Position. Sie will keine Gewalttäter schützen, aber mag auch keinen Staat, der sich in symbolischem Aktionismus verliert. Und genau diesen Verdacht hat sie. "Unverhältnismäßig" nennt sie die detailreichen Ermittlungen. "Ich würde sie nicht darauf reduzieren, aber sie haben eine politische Seite." Muskeln zeigen gegen Linke, darum gehe es. "Was dabei genau herauskommt, interessiert niemanden."

© SZ vom 08.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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