Früher Neonazi, bald Pastor:Schuld und Sühne des Johannes Kneifel

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Er hat ein Menschenleben auf dem Gewissen: Als Jugendlicher trat Johannes Kneifel so heftig auf einen Arbeitslosen ein, dass dieser starb. Im Gefängnis lässt Kneifel seine Vergangenheit als Neonazi hinter sich und beginnt an Gott zu glauben. Nun wird er trotz seiner Vergangenheit Pastor - und macht seine Geschichte zu Geld.

Antonie Rietzschel

Der Mann lag längst am Boden, als Johannes Kneifel ein letztes Mal zutrat - dieses Mal zielte er auf das Kinn. Dann zog sein Freund ihn weg. Die beiden zerstörten noch das Telefon, damit ihr Opfer nicht die Polizei rufen konnte, und verschwanden aus der Wohnung. Dass der Mensch, den sie brutal angegriffen hatten, im Krankenhaus gestorben war, erfuhr der damals 17-Jährige am nächsten Tag von einem Haftrichter, dem er vorgeführt wurde. Statt des Kinns hatte Kneifel den Kehlkopf getroffen und zertrümmert.

Kneifel ist ein Ex-Neonazi, er ist für den Tod eines Menschen verantwortlich und saß fünf Jahre im Gefängnis. Jetzt wird er Pastor. (Foto: N/A)

13 Jahre später: Im Gebetsraum der Baptistischen Gemeinde singen deren Mitglieder Lieder über Jesus. Ein Beamer wirft den Wochenspruch auf eine Leinwand: "Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade."

Mit einer Bibel in der Hand tritt Johannes Kneifel auf das Podest. Sein kräftiger Hals und die breiten Schultern unter seinem weißen Hemd lassen erahnen, dass der Mann zupacken kann. Das Rednerpult vor ihm, ein grober, eckiger Klotz, wirkt seltsam klein. Die roten Haare sind kurz, aus dem sommersprossigen Gesicht blicken große blaue Augen. Er liest mit weicher Stimme aus der Apostelgeschichte des Neuen Testaments, Kapitel acht, Verse 26 bis 39: "Ein Engel des Herrn aber redete zu Philippus und sprach."

Kneifel steht kurz vor dem Abschluss seines Studiums am Theologischen Seminar Elstal bei Berlin. Seine Heimatgemeinde in Hameln ist derzeit ohne Pastor und hat ihn deshalb gebeten, eine Predigt zu halten - mittlerweile zum vierten Mal. Die meisten Gemeindemitglieder kennen ihn und seine Geschichte aus Gesprächen, aber auch durch ein Interview, dass er in einer ARD-Sendung gegeben hat. Sie wissen: Kneifel ist ein Ex-Neonazi, er ist für den Tod eines Menschen verantwortlich und saß dafür wegen Körperverletzung mit Todesfolge fünf Jahre im Gefängnis. Und sie glauben, genau wie Kneifel selbst, dass Gott ihn gerettet hat. Der Student hat über seinen Wandel ein Buch geschrieben. Titel: "Vom Saulus zum Paulus".

Lückenhafte Erinnerungen an die Tat

Der heute 30-Jährige hatte als Kind kein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, die beide schwer krank waren. Sie seien mit der Erziehung der Kinder überfordert gewesen, sagt er. Als Jugendlicher geriet Kneifel in die rechtsextreme Szene. Er rasierte sich eine Glatze und trug Bomberjacke. Regelmäßig gab es Saufgelage mit den Kameraden in Eschede - am nächsten Tag hatte er meist Filmrisse. Mit den Eltern gab es ständig Streit, gegen seine Schwester wurde er sogar handgreiflich. Sie zeigte ihn wegen Körperverletzung an, nachdem er ihren Kopf gegen ein Bücherregal geschlagen hatte. Es blieb nicht bei dieser einen Anzeige. "Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe" - die Zeilen dieses Ärzte-Songs hätten damals zu ihm gepasst, sagt Kneifel. Sein Ziel sei es gewesen, Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wenn er über den Menschen spricht, der er vor der Tat war, ist Kneifel ruhig, geradezu analytisch - als müsste er ein psychologisches Gutachten über den Jungen von damals erstellen. Doch wenn er von dem Abend im August 1999 erzählt, spricht er gehetzt, Sätze bleiben unbeendet. Er macht mehrmals lange Pausen, seine Augen wirken dann plötzlich leer. Es ist der Blick eines Menschen, der selbst nicht zu begreifen scheint, was eigentlich passiert ist. Kneifels Erinnerungen sind teilweise lückenhaft.

Es ist der Abend des 19. August 1999. Nach einem Saufgelage machen sich ein Freund und er auf den Weg zur Wohnung von Peter Deutschmann, einem Sozialhilfeempfänger, der im Ort wegen seiner langen Haare unter dem Spitznamen "Hippie" bekannt ist. Auch Kneifel kennt ihn. Sein Freund hatte ihm erzählt, dass Deutschmann ihn aufgefordert habe, "das mit dem Nazikram" sein zu lassen. Dafür wollen ihm die beiden "einen Denkzettel" verpassen. "Wir sind losgezogen, ohne uns vorher zu überlegen, was wir eigentlich genau machen wollen", sagt Kneifel. Sie hämmern an die Tür von Deutschmann. Doch der öffnet nicht, obwohl sie durch das Fenster sehen, dass der Fernseher läuft. Gemeinsam treten sie die Tür ein. Deutschmann steht am Telefon, die Angreifer vermuten, der 44-Jährige wolle die Polizei rufen.

Von da an hat Kneifel keine bildhaften Erinnerungen mehr. Wer zuerst zuschlug, weiß er nicht. Er hat seine Akte studiert. Dort steht, die Gewalt sei von seinem Freund ausgegangen. Dabei glaubte er lange, dass er selber angefangen hatte. "Ich kann es einfach nicht sagen", sagt Kneifel. Als das Opfer bereits am Boden lag, gingen die Tritte von ihm aus, wie das Gericht feststellte.

Was Kneifel weiß, ist, dass er sich bedroht gefühlt hat. Er habe Angst gehabt, von dem auf dem Boden liegenden Mann doch überwältigt zu werden. "Ich wollte ihn k. o. schlagen." Als der Haftrichter ihm sagte, Deutschmann sei tot, habe er in erster Linie nur an sich gedacht: "Ich dachte nur: Scheiße, ich muss ins Gefängnis, ich kann nicht nach Hause."

Sein Opfer hatte eine Tochter. Davon erfuhr Kneifel aber erst 2011, zwölf Jahre nach der Tat. Eine Journalistin, die ihn für die ARD porträtierte, konfrontierte ihn damit - vor laufender Kamera. Eine Nahaufnahme zeigt jede Regung seines Gesichts. Sein Blick wird starr. "Da mir das niemand gesagt hat ...", sagt er mit brüchiger Stimme. Er führt den Satz nicht zu Ende, presst die Lippen zusammen und schluckt, "... sieht das jetzt natürlich ein bisschen anders aus." Nachdem er von der Tochter erfahren hatte, versuchte er Kontakt zu ihr aufzunehmen, was sie ablehnte. Bis heute haben sie sich nicht persönlich kennengelernt.

Zu Gott kam Kneifel im Gefängnis

"Denn er zog seinen Weg mit Freuden", liest Kneifel in der Kirche in Hameln. Für seine Predigt hat er die Geschichte eines Eunuchen ausgesucht, der Ablehnung und Ausgrenzung erfährt. Der Theologiestudent setzt eine bedeutungsvolle Pause, bevor er den Vers erläutert: Durch den Apostel Philippus habe der Eunuch die Geschichte von Jesus gehört. Dessen Botschaft laute: "Ich kenne deine Schmerzen - und in diesem Punkt bin ich bei dir. Ich lehne dich nicht ab, ich nehme dich an."

Zu Gott kam Kneifel im Gefängnis. Den Neonazi hatte er schon zu Beginn der Haft hinter sich gelassen. Rassismus konnte er sich angesichts der Mehrheit von Migranten unter den Häftlingen nicht leisten. Einige wurden seine Freunde. Mit anderen prügelte er sich. Obwohl er während der Haft sein Abitur nachgemacht und eine Ausbildung zum Mechaniker absolviert hatte, prophezeiten ihm die Gefängnispsychologen, dass er nicht entlassen werden würde. "Sie meinten, ich wäre nicht nur aggressiv, sondern dazu noch intelligent und damit eine Gefahr", sagt Kneifel trocken. In Wahrheit sei er vor allem verzweifelt gewesen. Schon damals besuchte er ab und zu die Gefängnisgottesdienste, weil sie ihm Abwechslung boten.

Während einer Predigt überkam ihn dann das Gefühl, dass Gott direkt zum ihm spreche und ihn auffordere, sich ihm anzuvertrauen. Und in seiner Verzweiflung war er dazu bereit: "Je mehr ich selbst versucht habe, etwas zu verändern, desto schlimmer ist es geworden", sagt Kneifel. Er sei bereit gewesen, sein Leben unter die Herrschaft Gottes zu stellen. In seiner Gefängniszelle habe er auf Knien darum gebetet. "Ich fühlte eine Freude, die ich bis dahin nicht kannte", sagt er. Er habe die Last der Schuld plötzlich nicht mehr allein tragen müssen. Von da an sei er viel ruhiger geworden. Und dann passierte etwas, das er als Wunder deklariert: Ein externes psychologisches Gutachten bescheinigte, er stelle keine Gefahr für die Gesellschaft dar und könne deswegen entlassen werden.

Nach seiner Entlassung wohnte er in der Nähe der Baptistischen Gemeinde in Hameln. Dort nahm man ihn trotz seiner Vergangenheit auf. Er begann, die Jugendgruppe zu besuchen. Einige der damaligen Mitglieder sind an diesem Sonntag gekommen, um seine Predigt zu hören. Sie geben ihm am Ende des Gottesdienstes die Hand, umarmen ihn.

Auch Viktoria Schlag kennt Kneifel von früher. Sie steht mit einem Kinderwagen in dem hellen Gebetsraum. Als sie sich an die erste Begegnung mit ihm erinnert, muss sie lachen: "Er sah wie eine Bulldogge aus mit seinen vielen Muskeln und den engen Shirts." Gleichzeitig habe er eher verunsichert gewirkt: "Wie ein kleiner Junge", sagt sie. Jetzt wirke er sehr selbstbewusst. Sollte jemand mit einer solchen Vergangenheit Pastor werden? Schlag reißt empört die Augen auf: "Aber gerade das kann ihn doch zu einem großartigen Pastor machen. Was andere theoretisch erlernen, hat er erfahren."

Für die Gemeindemitglieder ist Johannes Kneifel so etwas wie der lebende Beweis dafür, was Gott leisten kann. "Dem Johannes ist Jesus begegnet. An ihm ist der Glaube Wirklichkeit geworden", glaubt Dorothea Martens. Sie sitzt im Foyer der Kirche an einem Tisch. Kneifel, neben ihr, schweigt. Natürlich habe er eine Sünde begangen, sagt sie. "Aber auch Lügen ist eine Sünde und jedem Menschen wird vergeben." Im seinem Falle sei ein Mensch neu geworden. "Das kann nur der Glauben schaffen", sagt sie und schaut verklärt auf Kneifel, der kurz höflich lächelt. Später sagt er, dass seine Geschichte manchmal in christlichen Kreisen missbraucht würde, um "Gottes Größe" zu beweisen. "Das finde ich unangenehm."

Trotzdem hat er ein Buch geschrieben. Einerseits sei es eine Therapie für ihn gewesen, andererseits gibt Kneifel offen zu, dass er sich von dem Verkauf gutes Geld erhofft. Es sei ja schließlich eine gute Geschichte. Doch die lebt auch von dem Tod eines Menschen. Auf die Frage, ob er nicht glaubt, dass die Veröffentlichung des Buches die Aussöhnung mit Deutschmanns Tochter unmöglich macht, reagiert er gelassen. "Ich kann damit leben, dass sie mir nicht vergibt", sagt Kneifel. Es klingt beinahe trotzig, als wolle er sich nicht mehr ständig dafür entschuldigen, was er damals getan hat.

Doch die Vergangenheit lässt ihn nicht los. Zu Beginn des Jahres erhielt er telefonisch einen Tipp, dass Peter Deutschmann im Krankenhaus verblutet sein soll, weil ihn ein Arzt nicht rechtzeitig behandelte. Kneifel hat einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens gestellt. Die Quelle hält er für zuverlässig. Warum? "Sie ist einfach glaubwürdig."

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