Freisprüche im Fall Politkowskaja:Russisches Recht

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Mit den Freisprüchen im Fall Politkowskaja haben die Geschworenen der Rechtsstaatlichkeit in Russland zu einem seltenen Sieg verholfen. Doch der Rechtsstaat scheitert am politischen Willen - ein autoritäres System kann keine unabhängige Justiz dulden.

Sonja Zekri

Der erste Prozess im Fall des Mordes an der Journalistin Anna Politkowskaja ist mit einer Sensation zu Ende gegangen. Die Geschworenen haben allen Einflüsterungen, allem politischen Druck widerstanden und der Rechtsstaatlichkeit in Russland zu einem seltenen Sieg verholfen. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Video vom Tatort verloren, hatte widersprüchliche Beweismittel und neue Verdächtige, aber kein Motiv präsentiert.

Am Ende des Tages konnten sie als freie Menschen den Gerichtssaal verlassen: Die beiden Verdächtigen Dzhabrail Makhmudov (links) and Ibragim Makhmudov (rechts). (Foto: Foto: dpa)

Die Geschworenen entschieden: Das genügt nicht. Es ist ein Lichtblick. Russland wird inzwischen von zwei Juristen regiert, aber einem Rechtsstaat ist das Land nicht nähergekommen. Tag für Tag zieht ein Häuflein ehrlicher Anwälte in einen aussichtslosen Kampf - und bringt sich selbst in Gefahr.

Der Mord an Anna Politkowskaja, der einsamen Mahnerin, wäre auch ohne dieses überraschende Prozessende zum Symbol für den selbstmörderischen Idealismus russischer Menschenrechtler geworden. Zwei Jahre nach ihrem Tod rollt eine Gewaltwelle durch das Land, die manche bereits wieder mit den Vorkommnissen in den Neunzigern vergleichen.

Der Anwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasija Baburowa wurden vor den Toren der Erlöserkathedrale erschossen. Anton Stradymow, Mitglied der verbotenen Nationalbolschewiken, starb Ende Januar, bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen. Der inguschetische Publizist Magomed Jewlojew wurde in Polizeigewahrsam erschossen.

Es trifft Kreml-Kritiker und Offensiv-Demokraten, Umweltaktivisten und Antifaschisten. Und nicht nur sie. Unlängst fanden Anwohner im Müll den Kopf eines Kirgisen. Im Januar wurden in Russland 16 rassistische Morde verübt, ein Drittel mehr als vor zwei Jahren. Manchmal stellen die Täter Aufnahmen ins Netz.

Warum ist Russland so brutal? Und warum nehmen die Russen diese Brutalität meist unwidersprochen hin? Die naheliegende Erklärung hat fünf Buchstaben: Gulag. Russland verdrängt seine blutige kommunistische Vergangenheit - wie soll es da Werte für die Gegenwart entwickeln? Aber das stimmt nur zur Hälfte. Über die Verdienste Stalins werden unerträgliche Diskussionen geführt. Über das Martyrium in den Lagern spricht niemand außer Menschenrechtsorganisationen wie Memorial. Aber man muss nicht wissen, wer Stalin ist, um Fremdenfeindlichkeit abzulehnen.

Auch in Demokratien wie Italien oder Japan pflegen viele Menschen zu Kriegsverbrechern ein harmonisches Verhältnis. Der Rechtsstaat Frankreich hat seine Mitschuld am Holocaust formal vor ein paar Tagen zugegeben, 66 Jahre nach dem ersten Kindertransport nach Auschwitz. In Russland gibt es nach 70 Jahren Bolschewismus inklusive 30 Jahren Stalinismus keine Familie ohne Opfer oder ohne Täter. So wünschenswert der ehrliche Blick auf die Vergangenheit für die Psychohygiene ist, für eine instabile Gesellschaft wie die russische hätte diese Selbstbetrachtung unabsehbare Folgen. Das Bekenntnis zu den eigenen Verbrechen zeugt von demokratischer Stabilität, es erzeugt sie nicht. In Deutschland, wo die Siegermächte diesen Prozess kontrolliert haben, vergisst man das leicht.

Lesen Sie auf Seite zwei, was die Gewalt in Russland erklären kann.

Wenn also nicht der Gulag die Gewalt erklärt, was dann? Viele Russen haben den Eindruck, dass es ihnen nicht besser geht als den beklagenswerten Opfern. Kriminologen schätzen, dass in Russland auf 100.000 Einwohner 20 Morde kommen, das wäre der zweite Platz hinter Südafrika im Nationenvergleich. Umfragen verraten ein überwältigendes Gefühl der Schutzlosigkeit, der Ohnmacht gegenüber staatlicher Willkür und neuerdings gegenüber Arbeitslosigkeit. Es herrscht Angst, und diese Angst wird von einigen Politikern und Medien geschürt.

In Nazi-Kreisen dominiert weniger das Herrenmenschen-Denken als die Reinigungsphantasie. Wenn kremltreue Jugendliche gegen Gastarbeiter aus Usbekistan und Tadschikistan demonstrieren, dann geben sie den mordenden Glatzen das Gefühl, dass die nur die Drecksarbeit für ein besseres Russland erledigen. Die Diffamierung und soziale Ächtung des politischen Gegners endet nicht einmal mit dem Tod. Der Doppelmord an Markelow und Baburowa, schrieb die Iswestija, eines der schmierigsten Blätter Moskaus, sei eine Dreiecksgeschichte, nichts Politisches.

Die Morde der jüngsten Zeit waren geradezu demonstrativ, sie zeugen von einem unheimlichen Gefühl der Sicherheit, einem Vertrauen in eine Straflosigkeit, das sich vielleicht aus der Komplizenschaft mit den Kreisen der Macht erklärt, ganz sicher aber aus der Schwäche des Justizsystems. Wofür Anwaltskosten verschwenden, wenn ein Auftragsmörder günstiger ist?

Die Geschworenen haben diese verheerende Logik für einen Moment außer Kraft gesetzt, übrigens zum zweiten Mal: Zu Prozessbeginn setzte die Jury durch, dass der Fall öffentlich verhandelt werden müsse. Zweimal haben Dachdecker und Hausfrauen bewiesen, dass der Rechtsstaat in Russland am politischen Willen scheitert, nicht am Rechtsempfinden der Menschen. Ein autoritäres System aber kann keine unabhängige Justiz dulden. Vor kurzem erließ der Präsident ein Gesetz, das Prozesse wegen Spionage oder sozialer Unruhen der Zuständigkeit der Geschworenen entzieht.

© SZ vom 20.02.2009/woja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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