Frankreich:Späte Entschlossenheit

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In der Opposition und sogar in den eigenen Reihen wird der Vorwurf laut, dass Präsident Macron und die Regierung die Bedrohung durch das Virus zu lange unterschätzt haben.

Von Nadia Pantel, Paris

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sitzt mittlerweile recht einsam im Élysée-Palast. Die beinah täglichen Treffen mit Staatschefs aus aller Welt, die Besuche von Firmenchefs und Vereinen - alle Termine, die nicht direkt der Bekämpfung des Virus dienen, sind gestrichen. Doch wenn es nach Frankreichs Ärzten geht, dann kommt diese Entschlossenheit zu spät. Überall, in den Oppositionsparteien, in den eigenen Reihen von Macrons Partei La République en Marche und unter Medizinern und Wissenschaftlern wird der Vorwurf laut, dass Regierung und Präsident die Bedrohung durch das Virus zu lange unterschätzt hätten. Der Samstagabend wurde zu einem traurig-symbolischen Moment. Gesundheitsminister Olivier Véran verkündete den ersten Todesfall eines Arztes, der Patienten behandelt hatte, die an Covid-19 erkrankt waren, und sich dabei selbst infiziert hatte.

Mediziner fordern, dass in Paris die Metro stoppt und die Ausgangssperre verschärft wird

Jean-Jacques Razafindranazy war 67 Jahre alt, hatte keine Vorerkrankungen und arbeitete in der Notaufnahme des Krankenhauses von Compiègne. Im Verlauf von drei Wochen verschlecherte sich Razafindranazys Gesundheitszustand stetig, er starb im Universitätsklinikum von Lille. Am Montag wurde der Tod zweier weiterer Ärzte bekannt, die an Covid-19 erkrankt waren. Nach dem Tod der Ärzte beklagten Pfleger, Allgemeinärzte und Krankenhauspersonal erneut den massiven Mangel an Schutzkleidung. Es fehlen Atemschutzmasken und Mittel zur Händedesinfektion. Jean-Paul Hamon, Präsident der französischen Ärztevereinigung, sagte der Zeitung Le Monde, er fürchte ein "Massensterben" des Pflegepersonals.

Hamon hat sich ebenfalls bei seiner Arbeit mit dem Virus infiziert. Er nannte die staatliche Reaktion "unterirdisch": "Die Verwaltung muss zur Rechenschaft gezogen werden." Gesundheitsminister Véran kündigte an, dass sein Ministerium 250 Millionen Atemschutzmasken bestellt habe. Aktuell verfüge Frankreich über eine Reserve von 86 Millionen Masken, die nur für Ärzte und Pfleger vorgesehen sind.

Für die übrigen Franzosen gilt die Devise: Lieber zu Hause bleiben als Maske tragen. Am Dienstag beginnt die zweite Woche der Ausgangssperre. Zwei Ärztegewerkschaften hatten von der Regierung gefordert, die Vorgaben zu verschärfen. In Paris fahren nach wie vor die Metros, Bürger dürfen ihre Wohnungen verlassen, um Sport zu treiben und Macron hat sogar eine Risikoprämie von 1000 Euro ausgelobt, für jene, die weiter zur Arbeit gehen und für die das Home-Office keine Möglichkeit ist. Die Ärzte wollen hingegen den Stopp der öffentlichen Verkehrsmittel und eine noch strengere Ausgangssperre, die ein medizinisches Attest vorsieht, um die Wohnung verlassen zu können. Der Conseil d'État, das oberste Verwaltungsgericht, lehnte diese Forderung ab. Allerdings weist er die Regierung an, klarere Vorgaben zu machen. Die bisherigen Anordnungen seien "nicht eindeutig" und "zu weit gefasst". Am Montagabend dann verkündet Premier Édouard Philippe neue strengere Regeln: Man darf nur noch einmal pro Tag vor die Tür, um Sport zu treiben, mit den Kindern oder dem Hund rauszugehen, und das nicht länger als eine Stunde und nicht weiter als einen Kilometer von der eigenen Wohnung entfernt. Die Wochenmärkte werden geschlossen, außer in kleinen Dörfern. Am Sonntagabend hatte die Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedet, das der Regierung ermöglicht, den "medizinischen Notstand" auszurufen. Diese neue Regelung erhöht unter anderem die Strafen für Verstöße gegen die Ausgangssperre. Wer sich frei ohne schriftlichen Passierschein bewegt, muss 135 Euro Strafe zahlen. Wer in einem Monat viermal dabei erwischt wird, die Regeln zu brechen, kann künftig mit sechs Monaten Haft und 3700 Euro Bußgeld bestraft werden. An diesem Dienstag sollen der wissenschaftliche Rat der Regierung und Macron eine Empfehlung aussprechen, wie lange die Ausgangssperre gelten soll. Bildungsminister Jean-Michel Blanquer sagte, er rechne damit, Schulen und Kindergärten zum 4. Mai wieder zu öffnen. Gesundheitsminister Véran meldete am Montagabend, dass in 24 Stunden die Todesfälle um 28 Prozent auf 860 stiegen und die Neuinfektionen um rund 20 Prozent auf 19 856.

© SZ vom 24.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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