Frankreich:Späte Einsicht

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Will die blutige französische Kolonialgeschichte in Algerien aufarbeiten: Emmanuel Macron. (Foto: Philippe Wojazer/Reuters)

Präsident Macron räumt erstmals ein, dass französische Kolonialbeamte in Algerien gefoltert haben. Nun will er die Archive öffnen.

Von Nadia Pantel, Paris

Frankreich erlebt in der Auseinandersetzung mit seiner Kolonialvergangenheit den Beginn einer neuen Ära. Präsident Emmanuel Macron ordnete am Donnerstag an, dass die Archive, in denen Dokumente aus der Zeit des Algerienkrieges lagern, geöffnet werden. So sollen die Schicksale der vielen verschwundenen Algerier und Franzosen erforscht werden. Algerien erlangte 1962 nach einem achtjährigen Krieg die Unabhängigkeit von Frankreich. Obwohl das Kriegsende nun 56 Jahre her ist, zählen in Frankreich die Fragen nach Verantwortung und Schuld ihres Landes für das Leid der Algerier zu den großen Tabus der Republik.

Macron brach nun das Schweigen mit einer Geste, die viele französische Kommentatoren "historisch" nannten. Der Präsident besuchte Josette Audin, die Witwe des Mathematikers Maurice Audin, dessen Verschwinden zu den großen unaufgeklärten Verbrechen der französischen Kolonialherrschaft zählt. Maurice Audin war Kommunist und pazifistischer Kämpfer für die algerische Unabhängigkeit. Am 11. Juni 1957 wurde Audin von französischen Fallschirmjägern in seinem Haus verhaftet, seine Frau und seine drei Kinder sahen ihn nie wieder. Der Präsident bat nun im Namen der Republik bei Audins Witwe um Entschuldigung für die Gewalt, die ihrem Ehemann angetan wurde. "Die französische Republik erkennt an, dass Maurice Audin gefoltert und schließlich hingerichtet wurde von den Soldaten, die ihn verhaftet hatten. Sein Tod wurde ermöglicht durch ein institutionalisiertes System von Verhaftungen", schrieb Macron in einem offiziellen Brief, den er Josette Audin überreichte. Die Witwe sagte bei dem Treffen mit Macron in ihrem Haus östlich von Paris: "Ich habe niemals geglaubt, dass das passieren könnte."

Historiker vergleichen die Entschuldigung mit Chiracs Rede von 1995

Die Bedeutung dieses Briefes geht weit über den Fall Audin hinaus: Macron gesteht auf diese Weise ein, dass die französische Kolonialbehörden systematisch das Instrument der Folter einsetzten. Audins Verhaftung fällt in eine Zeit, in der das französische Parlament der Kolonialregierung das Recht eingeräumt hatte, die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien mit allen Mitteln zu bekämpfen. Tausende Algerier, aber auch Franzosen, verschwanden in dieser Zeit. In seinem Brief schreibt Macron von einem "Nährboden für teils grauenhafte Taten, darunter die Folter". Es sei an der Zeit, diese Geschehnisse "mit Mut und Klarheit zu betrachten".

Die Entschuldigung bei Audins Familie setzten zahlreiche Historiker nun gleich mit einer Rede von Jacques Chirac, der 1995 die französische Verantwortung für die Verhaftung und Deportation der Pariser Juden im Zweiten Weltkrieg eingestand. Chirac beendete damals das offizielle Narrativ, wonach die Republik nicht an Verbrechen der deutschen nationalsozialistischen Besatzer beteiligt gewesen sei.

Macron ist der erste Präsident der Fünften Republik, der nach dem Algerienkrieg geboren wurde. Er rief im Wahlkampf 2017 Empörung bei konservativen Politikern und Veteranenverbänden hervor, als er den französischen Kolonialismus ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nannte. Die Öffnung der Archive sei nun ein Weg, "diejenigen zu entlasten, die immer noch am Gewicht der Geschichte" leiden. Die Anerkennung der Verbrechen als solche könne "nichts heilen". Sie könne jedoch ein Symbol sein, durch das "etwas in Gang gebracht" wird.

© SZ vom 15.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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