Wer dem französischen Präsidenten bei seinem Presseauftritt am Dienstagabend zuhörte, mochte Zweifel bekommen, wer seine Rede geschrieben hat. Waren das François Hollande und seine Berater im Élysée-Palast? Oder nicht eher das Kanzleramt in Berlin und die EU-Kommission in Brüssel? Das, was der Sozialist da im 21. Monat seiner Amtszeit verkündete, klang gar nicht mehr nach klassisch französischem Etatismus, sondern nach europäischem Reformgeist.
Monsieur Hollande möchte beim Staat sparen, die Bürokratie beschneiden, die Arbeitgeber entlasten, die Produktivität verbessern, Europa stärken und noch enger mit Deutschland zusammenarbeiten. Hätten sich die Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso einen französischen Präsidenten backen können, er wäre genau so geraten.
Natürlich haben Hollande und die Seinen die Rede selbst geschrieben. Das macht den Text umso bemerkenswerter. Denn der Präsident beschwört eine kopernikanische Wende in Frankreich herauf. Vor Kopernikus glaubten viele Menschen, Sonne und Planeten kreisten um die Erde. Vor Hollandes Rede im Élysée dachten viele Franzosen, alles drehe sich um den Staat.
Nikolaus Kopernikus lehrte die Welt einst, dass sich Erde und Planeten um die Sonne drehen. Hollande offenbarte jetzt: Der Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer kreisen durcheinander, und nur wenn sie sich im Kompromiss verständigen, werden Kollisionen vermieden und es entsteht ein harmonisches Bild.
Hollande sagt Sätze, die banal klingen, in Frankreich aber Aufsehen erregen
Hollande, der einer dezidiert linken Partei entstammt, hat Sätze gesagt, die anderswo banal klingen mögen, in Frankreich aber Aufsehen erregen und Kommentatoren von "Revolution" sprechen lassen. Nicht der Staat, sondern die Arbeitgeber sind in erster Linie dafür zuständig, Jobs zu schaffen, sagt der neue Hollande. Damit sie dies können, müssen sie von Abgaben entlastet werden . Dies wiederum setzt voraus, dass der Staat an anderer Stelle spart, Gesetze und Verwaltung vereinfacht. Wenn die Betriebe dadurch ein reichhaltigeres und besseres Angebot produzieren können, werde automatisch auch die Nachfrage steigen.
Der Unternehmerverband und die konservative Opposition können nun gar nicht anders als zuzustimmen. Damit bringt Hollande zugleich Bewegung in die in Frankreich traditionell starren Fronten zwischen rechts und links, Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Konsens ist kein Fremdwort mehr in Paris.
Der Präsident geht noch weiter. Er bekennt sich, klar wie nie, zur Schicksalsgemeinschaft Frankreichs mit Deutschland in Europa. Er möchte die Steuersysteme harmonisieren und wagt einen neuen Anlauf für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hollande hat viele Vorsätze in seine Rede hineingepackt. Sie klingen gut. Doch sie taugen nichts, wenn er sie jetzt nicht umsetzt.
"Keine nützlichen Reformen wurden jemals ausgeführt, ohne ihren Urhebern Gegner, Feindschaften und bittere Unannehmlichkeiten zu bereiten", hat der italienische Staatsmann Camillo Benso von Cavour einst gewarnt. Dies gilt besonders für Frankreich. Wie schwer Hollandes Aufgabe wird, davon zeugt der monatelange Aufruhr, den sein konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy im Jahr 2010 mit einem Rentenreförmchen auslöste.
Frankreich ist ein hartes Pflaster für Reformer. Da die französische Nation einst vom Staat, verkörpert durch die Könige, geschaffen wurde, haben sich die Bürger daran gewöhnt, dass der Staat für alles zuständig ist - vor allem für eine großzügige Versorgung der Franzosen.
Dieses Modell hat lange funktioniert. Frankreich ist in vielem vorbildhaft, im Gesundheitssystem, bei Familienhilfen oder der Verkehrsinfrastruktur. Doch stößt sein Etatismus im Weltwettbewerb nun brutal an seine Grenzen. Er lastet zu schwer auf Unternehmen und Bürgern, erstickt die Wirtschaft und treibt die Franzosen in die Arbeitslosigkeit.
Hat der kluge Hollande das erst jetzt erkannt? Oder warum sonst hat er die ersten eineinhalb Jahre als Präsident vertändelt? Womöglich dachte der von der gesamten Linken gewählte Sozialist im Frühjahr 2012, er könne seinen Landsleuten die Wahrheit noch nicht zumuten. Womöglich merkt er heute: Der Leidensdruck ist groß genug.
Das gilt auch für Hollande selbst. Mit dem Rücken zur Wand, tristen Wirtschaftsdaten in der Hand, unpopulärer denn je und von einer amourösen Affäre belastet, wagt er jetzt die Wende. Viele linke Verbündete werden ihn erbittert bekämpfen. Womöglich muss er sich neue Partner in der Mitte suchen. Es eilt. Die kopernikanische Wende vollzog sich in Jahrzehnten. So viel Zeit hat Hollande nicht.