Frankreich:Misstrauische Massen

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Proteste in Paris (2019): In Europa gilt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron als Hoffnungsträger, für die Gelbwesten ist er das große Feindbild. (Foto: Jean-Michel Belot/Reuters)

Die Wut der Franzosen über die geplante Rentenreform ist weiterhin ungebrochen - die Regierung gerät zunehmend in Bedrängnis.

Von Leo Klimm und Nadia Pantel, Paris

Die Menschen, die an diesem Dienstag auf der Pariser Place de la République zusammengekommen sind, teilen ein Ziel: Sie wollen unübersehbar sein. Schon um 14 Uhr, als sich der Demonstrationszug der Gewerkschaften gerade erst in Bewegung setzte, war klar, dass es ihnen gelungen war. Zehntausende standen dicht an dicht. Krankenhauspersonal in weißen Kitteln, Personal der Staatsbahn, Lehrer, die auf ihre Plakate die Namen ihrer Schulen geschrieben hatten, Mitglieder aller großen Gewerkschaften. Die geplante Rentenreform der Regierung bringt in Frankreich ein so breites Bündnis auf die Straße, wie das Land es seit Jahren nicht gesehen hat.

Das Problem ist nur, dass sie von Macron nur eines erwarten: Dass alles schlimmer wird

Am Dienstag protestierten laut Behördenangaben landesweit mehr als 600 000 Menschen.

Die Gewerkschaft CGT dagegen sprach von insgesamt etwa 1,8 Millionen Demonstranten. Catherine Guinard steht neben den orangefarbenen Bannern der CFDT, Frankreichs größter Gewerkschaft. "Wir wollen, dass die Rente reformiert wird, damit ein gerechteres System entsteht, nicht damit die Regierung sparen kann." Guinard ist 61 Jahre alt und schon in Rente, nach 42 Arbeitsjahren. "Was bringt es, zu sagen, die Leute sollen bis 64 arbeiten, wenn es gleichzeitig genug Menschen gibt, die mit 51 Jahren schon keine Arbeit mehr finden?", fragt Guinard. Sie und ihre Gewerkschaft haben die Reformpläne der Regierung unterstützt, bis Premierminister Édouard Philippe die genauen Eckdaten der neuen Universalrente vorgestellt hat. Es soll nicht nur ein System nach Punkten kommen, sondern auch Anreize, um künftig bis 64 zu arbeiten. "Die Regierung sagt immer, sie will verhandeln, aber dann wischt sie uns einfach beiseite", sagt Guinard.

Nun will Philippe eine Lösung finden, um die Blockade zu lösen - und das zentrale Reformprojekt von Präsident Emmanuel Macron irgendwie zu retten. Die Regierung ist noch etwas mehr unter Druck geraten, seit zu Wochenanfang der Rentenbeauftragte Jean-Paul Delevoye wegen einer Affäre um Nebenbeschäftigungen zurücktreten musste. Philippe trifft die Verhandler der Gewerkschaften erst einzeln, dann alle zusammen. "Ich bin entschlossen, aber nicht verschlossen", ist sein Mantra. Das soll - theoretisch - Verhandlungsbereitschaft signalisieren. In der Praxis wird die Verständigung schwer: Die CFDT fordert den Verzicht auf die Anhebung des Renteneintrittsalters. Um die Kassen zur Altersversorgung vor Defiziten zu bewahren, hat sie einen anderen Vorschlag: Sie will die ohnehin schon hohen Rentenbeiträge anheben. Die Ablehnung der Regierung folgte am Dienstag auf dem Fuß: "Das würde die Wirtschaft töten", hieß es.

Wie kompliziert die Umstellung des Systems wird, versteht man auf der Pariser Demo recht schnell. Die Macht der Eisenbahner spürt Frankreich nun seit 13 Tagen. Die Metros stehen still, Regional- und Fernzüge ebenso. Doch die Eisenbahner sind nur eine von vielen Gruppen, die mit der Reform verlieren könnten. Die Gewerkschaften wollen mit Philippe über viele Punkte reden. Darunter die Frage, wie Menschen mit besonders anstrengenden Berufen im künftigen System besser gestellt werden, als bisher vorgesehen. Oder das heikle Thema, unter welchen Bedingungen die Beamten oder Mitarbeiter von Staatsfirmen auf ihre heute vorteilhaften Sonderkassen verzichten könnten. Die Vorschläge der Gewerkschaften laufen darauf hinaus, die alten Regeln, die Macron abschaffen will, noch über zwei Jahrzehnte zu erhalten. Überhaupt: Die Schlüsselfrage ist, wie die möglichst verlustfreie Übertragung der Rechte all jener zu schaffen ist, die schon Beiträge in die heute existierenden Rentenkassen eingezahlt haben.

Gwen und Sophie haben das Gefühl, auf keine dieser Fragen bislang eine Antwort gehört zu haben. Sie arbeiten beide als Vorschullehrerinnen, ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Sie streiken seit dem 5. Dezember. "Dabei lieben wir unseren Beruf", sagt Gwen. "Wenn man Lehrerin wird, dann ist der Deal klar, du verdienst nicht viel, aber dafür ist die Rente okay und du hast ein bisschen mehr Ferien", sagt Sophie. Nun kündige die Regierung diesen Deal einfach auf. Die beiden Frauen arbeiten 26 Stunden die Woche, plus Konferenzen, plus Vorbereitung. Sophie verdient nach zwei Jahren im Job knapp 1500 Euro netto, Gwen nach 13 Jahren 1900 Euro. "Und dann wollen sie noch unsere Rente kürzen?" - Sophie glaubt der Regierung nicht, dass sie das Gehalt der Lehrer erhöhen wird.

Die Demo in Paris findet bei milden Temperaturen statt, die Stimmung ist gelöst und fast schon siegesgewiss. Jeder, der hier ist, kann sehen, dass die Mobilisierung nicht gescheitert ist. Doch der Tenor aller Gespräche lautet: Misstrauen. Nicht jeder, der protestiert, glaubt, dass Frankreich, so wie es die Linksaußen-Gewerkschaft CGT behauptet, "das beste Rentensystem der Welt hat". Das Problem ist nur, dass sie von Macron nur eines erwarten: Dass alles schlimmer wird. Das Vertrauen in den Präsidenten sei leicht gestiegen, melden Frankreichs Nachrichtenagenturen in dieser Woche. So ein Anstieg liest sich so: 30 Prozent der Befragten sagen, dass sie Macron vertrauen. 65 Prozent sagen, dass sie ihm nicht vertrauen, in dieser Gruppe sind wiederum 38 Prozent, die sagen, Macron "überhaupt nicht zu trauen".

© SZ vom 18.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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