Frankreich:Keine Sentimentalitäten

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Lobt die Vergangenheit, will sich aber auch die Gegenwart nicht schlecht reden lassen: Valéry Giscard d’Estaing. (Foto: AFP)

Giscard d'Estaing lädt zum Gespräch, um über das Europa zu reden - auf das man stolz sein könne. Ein Gefängnis freilich dürfe die EU nicht sein.

Von Nadia Pantel, Paris

Mit 93 Jahren verschwendet man seine Zeit nicht mehr. Valéry Giscard d'Estaing weiß also genau, warum er an diesem Herbstvormittag eine Gruppe Journalisten zum Gespräch geladen hat. Frankreichs früherer Präsident will Optimismus verbreiten. Überall reden sie von der Krise der EU, von ihren Gegnern, ihren Fehlern. Giscard d'Estaing will daran erinnern, dass die Union funktioniert und dass sie sich weiterentwickelt. Immerhin hat er sie sich mit ausgedacht.

"Monsieur le Président" kündigt eine Mitarbeiterin die Ankunft des früheren Staatschefs an. Wer einmal Präsident gewesen ist, den adelt das Amt bis ans Lebensende. Giscard d'Estaing empfängt in Räumen direkt am Boulevard Saint-Germain, an den Wänden Bilder einer anderen Zeit. Zum Beispiel eine Aufnahme vom 16. März 1981: Giscard d'Estaing mit Bundeskanzler Helmut Schmidt und den Außenministern Hans-Dietrich Genscher und Jean François-Poncet vor Holztäfelung in Blaesheim. Dort, im Elsass, begannen Gerhard Schröder und Jacques Chirac 2001 offiziell den Blaesheim-Prozess, eine enge Abstimmung zwischen deutschem Kanzler und französischem Präsidenten.

Merkel und Macron im Elsass bei Sauerkraut? Schwer vorzustellen

Doch schon lange vorher pflegte Giscard d'Estaing hier die deutsch-französische Freundschaft und lud Helmut Schmidt zum Essen ins "Au Boeuf". Wöchentlich, erzählt er, telefonierte er während seiner Amtsjahre von 1974 bis 1981 mit Schmidt in Berlin. Sieben Jahre lang bildeten die beiden Männer ein politisches Paar. Heute hingegen leben Élysée-Palast und Kanzleramt eher aneinander vorbei. In Paris beginnt die Zeit Emmanuel Macrons voller Ehrgeiz und Energie, in Berlin enden die Jahre Angela Merkels mit einem anderen Tempo. Soll man nun wehmütig werden, weil man sich aktuell nur schwer vorstellen kann, wie Merkel und Macron bei einer Runde Sauerkraut im Elsass Freunde werden?

An solchen Sentimentalitäten ist Giscard d'Estaing nicht interessiert. "Ich habe den Brexit erfunden", eröffnet er das Gespräch, bester Laune. 2001 war Giscard d'Estaing zum Präsidenten des Europäischen Konvents berufen worden, er schrieb mit an der Verfassung, die dann später zur Basis des Vertrags von Lissabon werden sollte. "Damals wurde kritisiert, dass die EU wie ein Gefängnis sei, man könne beitreten, käme dann aber nicht mehr heraus. Diesen Vorwurf wollten wir entkräften." Den Vorläufer des heutigen Artikels 50, der den Austritt aus der Union regelt und damit aktuell den Brexit, will Giscard d'Estaing als "proeuropäische Idee" verstanden wissen. "Wir wollten damals die EU stärken, wir wollten, dass sie sich weiterentwickelt." Im Nachhinein, sagt er, "haben wir vielleicht unterschätzt, wie kompliziert ein Austritt werden könnte, gerade wegen der Irlandfrage."

Und so will er an diesem Tag nicht nur darüber sprechen, dass man "stolz sein kann, in Europa zu leben". Er plädiert auch für Flexibilität: "Ich denke, dass es vernünftig wäre, den Briten einen Aufschub von einem Jahr zu gewähren." Man müsse da "den Esprit offen halten".

Die Tatsache, dass es ausgerechnet Frankreichs aktueller Präsident Macron ist, der bei den Verhandlungen mit Großbritannien darauf dringt, den Termin für den EU-Austritt nicht weiter zu verschieben, will Giscard d'Estaing nicht kommentieren. Lieber konzentriert er sich darauf zu betonen, dass die Union auch ohne Großbritannien "kohärent" sei. "Es gibt Männer und Frauen innerhalb der EU, die nicht einer Meinung sind, und das ist normal. Von Spannungen oder Bedrohungen würde ich nicht reden." Die neue EU-Kommission? "Jünger und interessanter als ihre Vorgängerin". Der Euro? "Die Presse spricht gerne von der Schwäche des Euro-Systems, aber das muss nicht so sein, wenn die Europäische Zentralbank effizient und vernünftig handelt." Aber was, wenn der Brexit weiter herausgezögert wird und die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft lähmt? "Was ist schon ein Jahr? Wir müssen bescheiden sein, was den Fortschritt der EU anbelangt. Es gibt keinen Grund, zu schnell vorwärts zu gehen."

Den Namen Macron nimmt Giscard d'Estaing kein einziges Mal in den Mund, doch würde man seine Aussagen mit Zitaten des aktuellen Präsidenten gegenschneiden, entstünde ein pointierter Streit. Macron warnt ja, die Europäer dürften nicht zu "Schlafwandlern" werden, die die Bedrohung des Nationalismus unterschätzten. Giscard d'Estaing beschwichtigt: "Vergessen wir nicht, es gibt kein einziges Land, abgesehen von Großbritannien, das die EU verlassen möchte."

Giscard d'Estaing tritt an diesem Tag nicht als altgedienter Politiker auf, der vergangene Zeiten lobt, er will sich die Gegenwart nicht schlechtreden lassen. Und auch nicht das Werk, für das er steht: die Europäische Union. Doch bei aller Zuversicht, ganz ohne Irritation ist auch er nicht, wenn er auf das Heute schaut. Beinah ein halbes Jahrhundert ist es her, dass er an die Spitze des französischen Staates gewählt wurde. Hat sich die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, seitdem verändert? "Früher basierte Politik auf einer bestimmten Art von Kultur, heute beruht sie auf Kommunikation." Kommunikation heißt für ihn in diesem Fall: ein twitternder Trump. Was dabei herauskomme, sei ja "oft innerhalb eines Tages widersprüchlich". Früher haben "wir erst überlegt und uns dann für etwas entschieden". Die EU ist für ihn eine Frage der Kultur, "weil wir Politik gemacht haben, in Kenntnis unserer Geschichte".

Was das konkret bedeutet, zeigt sich für Giscard d'Estaing auch in der deutsch-französischen Freundschaft. "Den ersten Deutschen, den ich in meinem Leben gesehen habe, beobachtete ich durch das Zielfernrohr eines Panzers, ich sollte auf ihn schießen", erzählt der Mann, der als 18-Jähriger gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte. "Und später habe ich dann mit dem deutschen Kanzler ein gemeinsames Projekt verfolgt." Das sei doch "bemerkenswert", sagt Giscard d'Estaing. Und das klingt wieder nicht so anders als bei Macron, der die EU ja auch als Friedensprojekt verstanden wissen will.

© SZ vom 11.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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