Frankreich:Eine große Nation

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Nur Bewährungsprobe oder sogar Fußballfest? Blick durch einen Bauzaun auf das Wahrzeichen von Paris. (Foto: AFP)

Selten wirkte das Land so verunsichert und gesellschaftlich zersplittert wie heute. Doch die Fußball-EM kann den Gastgebern Selbstwertgefühl zurückgeben.

Von Stefan Ulrich

Es gibt viele Geschichten über den französischen Nationalstolz. Eine davon lautet, die Franzosen bezeichneten sich als " la Grande Nation", "die große Nation", um ihre singuläre Stellung unter den Völkern auszudrücken. Doch das ist falsch. Es sind vielmehr Deutsche, die gern von "der Grande Nation" sprechen, wenn sie sich über das vorgebliche Gockelgehabe ihrer Nachbarn mokieren wollen. Die Franzosen selbst nennen sich lediglich "une grande nation" - also eine unter vielen.

Richtig ist dagegen, dass Frankreich neben seinem Wahlspruch "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" auch dem Ideal der "nation une et indivisible", der "einen und unteilbaren Nation", verpflichtet ist. Die Realität sieht anders aus. Selten wirkte das moderne Frankreich so uneinig und gesellschaftlich zersplittert wie jetzt, zum Auftakt der Europameisterschaft.

Laizisten und Religiöse, Christen und Muslime, Radikale und Moderate, Wirtschaftsreformer und Gewerkschafter, Ursprungsfranzosen und Einwanderer, Bürger der Innenstädte und der Banlieue, Nationalisten und Europafreunde vereint vor allem der Argwohn gegeneinander. In Paris aber, wo sich die Probleme des Landes bündeln, wacht ein Präsident über die Nation, den seine Landsleute bestenfalls für überfordert halten - auch wenn er jetzt den Streikenden und Protestierern drohte, er werde "alle erforderlichen Maßnahmen" ergreifen, um Transport und Sicherheit während de EM zu garantieren.

Nun soll also dieses Fußballturnier, in das der Gastgeber mit einem mühsamen 2:1-Sieg gegen Rumänien startete, der Nation Tröstung bringen? Es gibt solche sportlichen Mirakel. München und Barcelona verdanken auch den Olympischen Spielen, dass sie heute so attraktive Städte sind. Das Wunder von Bern gab den in Schande besiegten Deutschen bei der WM 1954 ein gewisses Selbstwertgefühl zurück. Beim Sommermärchen 2006 bewiesen sie sich, dass sie eine fröhliche, andere nicht ausgrenzende Nation sein können. Auch die Franzosen hatten ihr Sommermärchen. 1998 wurden sie Weltmeister daheim. Die "Blauen", wie die Nationalmannschaft genannt wird, wurden als "black, blanc, beur" gefeiert - schwarz wie der Spieler Lilian Thuram, weiß wie Laurent Blanc, beur (arabisch für braun) wie Zinédine Zidane. Der Sinn des Farbenspiels: Das Nationalteam sollte die Integrationsmaschine sein, die das schon damals an sich zweifelnde Land eint.

Das hat schon 1998 nicht lange funktioniert. Und heute sind die Bedingungen schwieriger: Frankreich lebt, nicht nur sicherheitspolitisch, im Ausnahmezustand. Die lange Wirtschaftskrise, fatale Defizite bei der Integration junger Bürger mit arabischen oder afrikanischen Wurzeln, verschleppte Reformen, steigende Kriminalität, Terrorattacken und das Scheitern erst des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dann seines sozialistischen Nachfolgers François Hollande haben die Franzosen zermürbt. Der radikale Front National lockt sie mit isolationistischen Biedermeier-Rassismus, der auch vor der Nationalmannschaft nicht halt macht. Die EM droht da eher zur Bewährungsprobe als zum Fest zu werden. Daher braucht Frankreich heute Zuspruch von seinen vielen Freunden, die es in Europa und der ganzen Welt weiterhin hat. Es ist keine Gesundbeterei, die Franzosen und insbesondere die Pariser auf all die Trümpfe hinzuweisen, die sie nach wie vor in den Händen halten, aber heute gern übersehen: eine hervorragende Infrastruktur, gut ausgebildete, mobile junge Leute, exzellente Hochschulen, eine technikaffine Bevölkerung, die fortschrittliche Familienpolitik, Landschaften und Kunstschätze, die Millionen Touristen aus aller Welt anlocken.

Dann ist da noch Paris. Sollte Großbritannien mit London aus der EU austreten, so wird Paris die einzige Weltmetropole Europas sein; Berlin spielt (noch) nicht in dieser Liga. Und Paris nimmt seine Rolle an, verändert sich rascher, als es viele dieser alten Stadt zutrauen. Sie öffnet sich endlich dem Fluss, der Seine, orientiert sich wie andere Weltstädte stärker Richtung Meer, lässt einer jungen, unkonventionellen Kultur- und Jugendszene mehr Raum als in der Vergangenheit. Außerdem baut das Ballungszentrum an einem Grand Paris samt ultramodernem Metro-System, das die Kluft zwischen dem Zentrum und den Vorstädten verringern wird.

Paris wird also auch im 21. Jahrhundert leuchten, unabhängig davon, wie diese Europameisterschaft verläuft. Dennoch ist dieses Turnier, über das Spiel mit dem Ball hinaus, bedeutsam. Geht etwas schief, und jeder kennt die Gefahren, wird das den Pessimismus der Franzosen vertiefen. Gelingt die EM aber, setzen die "Blauen" ihre Siegesserie fort und feiern die Pariser - denen man nachsagt, Enthusiasmus für Idiotie zu halten - mit ihren Gästen ein Fußballfest, dann kann das dem Land den Schub versetzen, den es zur Überwindung seines Trübsinns braucht.

© SZ vom 11.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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