Fraktionslose Abgeordnete:Völlig losgelöst

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Zwei, die ihr politisches Glück jenseits der Fraktionen suchen: Dora Heyenn (links) verließ die Links-Fraktion in Hamburg, Claudia Martin die AfD in Stuttgart. (Foto: dpa)

In jedem zweiten Landesparlament sitzen Abgeordnete, die ihre Fraktion verlassen haben. Über Politik jenseits der Gruppe.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Dora Heyenn will noch etwas zeigen, eine weitere Verbesserung nämlich, die sich ergeben hat aus ihrem Wechsel in den Stand einer fraktionslosen Abgeordneten der Hamburgischen Bürgerschaft. Als sie noch Fraktionschefin der Linken war, saß sie in balkonlosen Räumlichkeiten im Rathaus. Seit sie unabhängig ist, arbeitet sie in einem Dachbüro nahe dem Jungfernstieg. Hier gibt es einen Balkon, und den Ausblick von dort präsentiert Dora Heyenn wie einen Hamburger Schatz. Links fällt der Blick durch eine Gasse auf die Binnenalster, und rechts auf die Kirchturmspitze des Michel. Und hinter Häuserdächern in greifbarer Ferne das Wellendach der Elbphilharmonie. Dora Heyenn lächelt. "Gut, nicht?"

Die Öffentlichkeit ist zuletzt wieder aufmerksam geworden auf die Fraktionslosen in den Parlamenten der Bundesländer. Claudia Martin, Mitglied des Landtags in Baden-Württemberg, ist vor zwei Wochen der Auslöser dafür gewesen mit ihrem geräuschvollen Austritt aus der AfD, den sie mit rechtspopulistischen Anwandlungen der Partei erklärte. "Dieser Weg der AfD ist nicht mehr mein Weg und unter den derzeit gültigen Vorzeichen habe ich auch keinen Wahlkampf gemacht", sagte sie und erklärte damit auch, warum sie trotzdem im Landtag bleiben will. Wütende AfD-Leute fordern von Claudia Martin, ihr Mandat herzugeben, das sie bei den Landtagswahlen im März für die AfD mit 18,6 Prozent Zustimmung im Wahlkreis Wiesloch gewann. Aber Claudia Martin findet, dass sie dem Wählerwunsch eher gerecht wird, wenn sie nicht dem Pfad der Erzkonservativen folgt, sondern ihre eigene Politik macht.

In acht der 16 Landesparlamente sitzen insgesamt 13 Fraktionslose, gerade aus der AfD sind einige hervorgegangen. In Baden-Württemberg zum Beispiel nicht nur die enttäuschte Claudia Martin, sondern auch Wolfgang Gideon, der mit antisemitischen Aussagen heftige Diskussionen auslöste und schließlich die Fraktion verließ. Die Geschichten der Fraktionslosen spiegeln Partei-Wirklichkeiten hinter dem großen öffentlichen Ringen um eine bessere Welt: interne Grabenkämpfe, Machtspiele, individuelles Fehlverhalten. Mal verzweifelt dabei das Mitglied an der Fraktion, mal die Fraktion am Mitglied. Gerade die Hamburgische Bürgerschaft gibt in dieser Hinsicht ein buntes Bild ab; drei Fraktionslose sitzen dort: Ludwig Flocken, dem die AfD offenbar zu links war und der es mit islamfeindlichen Aussagen im April zum ersten Ausschluss eines Abgeordneten aus der Bürgerschaftssitzung seit 23 Jahren gebracht hat. Dann Nebahat Güclü, eine frühere Vorzeige-Grüne, die durch einen Wahlkampfauftritt bei einer rechtsextremen türkischen Partei in die Kritik geriet. Und schließlich Dora Heyenn, die bei der Bürgerschaftswahl 2015 dazu beigetragen hatte, dass sich die Linken um 2,1 Punkte auf 8,5 Prozent steigern konnten.

Heyenn, 67, war 28 Jahre lang bei der SPD in Schleswig-Holstein, und zwar als Anhängerin des langjährigen Landesvorsitzenden Jochen Steffen, der wegen seiner Gesinnung den Beinamen "roter Jochen" trug. Die SPD verließ sie 1999 aus Protest gegen Gerhard Schröders Agenda-Politik. "Ich bin sozialdemokratischer als Olaf Scholz", sagt sie mit Blick auf den wirtschaftsfreundlichen SPD-Bürgermeister, und in diesem Sinne führte sie auch die Fraktion der Linken. Bis die plötzlich eine Doppelspitze wollte und ihr die mehrheitliche Zustimmung verweigerte. Dora Heyenn zögerte nicht mit ihrem Austritt.

Und nun? Vermisst sie etwas? Sie hat nicht mehr die Rechte einer Fraktions-Angehörigen - sie darf im Plenum keine Anträge stellen, nur in den Ausschüssen, und sie darf in der Ausschussarbeit nicht abstimmen. "Dafür bin ich auch nicht an Fraktionszwang und an Ressortzuschnitt gebunden", sagt sie. Nach wie vor sitzt sie in den Ausschüssen für Wissenschaft und Schule. In Debatten der Aktuellen Stunde stehen ihr fünf Minuten Redezeit zu, und sie kann in Lücken springen. "Die Themen, die andere nicht aufgreifen wollen, die schnappe ich mir."

Man muss halt was machen aus dem Mandat, und das tut Dora Heyenn. "Ich habe von vorneherein auch Rechte eingefordert", sagt sie. Als die Bürgerschaft zum Beispiel eine neue Senatsbefragung einrichtete mit Fragerecht für alle Fraktionen, bestand Heyenn darauf, dass auch das Fragerecht der Fraktionslosen festgeschrieben wird - mit Erfolg. "Ich will mein Mandat auch wahrnehmen, ich will nicht nur das Geld kassieren." Und Heyenn hat das Gefühl, dass ihre Einstellung geschätzt wird. "Die gesamte Bürgerschaftskanzlei, die Präsidentin und auch die Fraktionen von SPD, Grünen, FDP, CDU sehen zu, dass ich auch zu meinem Recht komme." Nach ihrer Beobachtung spielen nur zwei Fraktionen nicht mit: "Mit den Linken und der AfD ist da wenig anzufangen."

Fraktionslose können mit ihrer Stimme im Plenum durchaus einen Unterschied machen. Vor der Abstimmung zur Bundesversammlung zum Beispiel fragten SPD und Grüne Heyenn, ob sie nicht für die Delegierten der rot-grünen Liste stimmen wollte. Sie wollte, und trug so dazu bei, dass die AfD leer ausging. Und wenn sie beharrlich genug sind, können Fraktionslose auch ein bisschen Wind machen. Jede Woche gibt Dora Heyenn eine Pressemitteilung heraus und verleiht damit ihrer Parlamentsarbeit Nachdruck. Sie zeigt auf Zeitungsausschnitte, die hinter ihr an der Wand hängen. In diesem Sommer hat sie den Umstand zum Thema gemacht, dass die Handelskammer von der Stadt für Räumlichkeiten Miete bekommt, die eigentlich der Stadt gehören. Dora Heyenn sagt: "Man kann inhaltlich was bewegen, gar keine Frage." Als Nächstes will sie die Eintrittspreise in den Hamburger Kunstmuseen ansprechen; diese könnten sozialverträglicher sein, findet sie.

Für ihre letzte Legislaturperiode hat sich Heyenn noch einmal ihre eigene politische Welt gebastelt. 2800 Euro bekommen Abgeordnete in Hamburg, um Mitarbeiter einzustellen, davon hat sie einen langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter weiterbeschäftigt. Und für die 1353 Euro, die sonst die Fraktion für einen Abgeordneten bekommt, hat sie dann noch ihren bewährten Bildungsreferenten aus dem Ruhestand zurückgeholt - und für ein paar Wochenstunden eingestellt.

© SZ vom 28.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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