Flüchtlingspolitik:Von Heiligkeit und Doppelmoral

Lesezeit: 3 min

Der Bundestag beschließt ein Gesetzespaket zur Migration - nach einer hitzigen Debatte.

Von Nico Fried und Henrike Roßbach, Berlin

Innenminister Horst Seehofer zeigt sich stolz auf das Gesetzespaket. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Es ist die erste Legislaturperiode des Abgeordneten Helge Lindh aus Wuppertal. Der Sozialdemokrat hat indes mit Fragen von Flüchtlingspolitik und Zuwanderung schon einige Erfahrung: Lindh, 42, besuchte vor ein paar Monaten die Sea Watch 3, eines der privaten Rettungsschiffe im Mittelmeer, und leitet den Integrationsrat der Stadt Wuppertal. Er ist Attacken gegen seine politische Position gewöhnt, Hacker verschafften sich einst Zugang zu seinen Kreditkartendaten und schickten ihm von seinem Geld bezahlte Hundekotattrappen. So hat es Lindh später dem Spiegel erzählt.

An diesem Freitag hat Lindh einen bemerkenswerten Auftritt im Bundestag. In seiner Rede nimmt er zunächst einige der Vorwürfe auf, die gegen das "Geordnete- Rückkehr-Gesetz" vorgebracht wurden, das Innenminister Horst Seehofer (CSU) und die große Koalition im Parlament verabschieden wollen. Sie reichen von Rassismus bis zu Anbiederei an die AfD. Lindh findet, dass die Diskussion zu emotional geführt werde. Er warnt, wenn verständlicher Idealismus zu Absolutismus werde, "dann stirbt die Diskursfähigkeit".

Helge Lindh ist ein ziemlich typischer SPD-Abgeordneter im Zwiespalt zwischen Solidarität mit Flüchtlingen einerseits und den Erwartungen vieler Bürger, Menschen ohne Schutzanspruch abzuschieben. Er schildert diesen Abwägungsprozess recht anschaulich. Schließlich greift Lindh, herausgefordert durch eine Zwischenfrage, die Grünen an: "Wenn Sie bei jeder Frage von Abschiebung uns vorwerfen, wir brächen die Menschenrechte - warum schieben Sie dann ab in Baden-Württemberg? Warum ist das Praxis in Hessen?" Beide Länder werden von den Grünen mitregiert. "Doppelmoral" sei das, ruft Lindh, und fügt hinzu, der Grat sei schmal zwischen "Heiligkeit und Scheinheiligkeit".

Der Beifall, der sich nun aus der SPD-Fraktion, aber auch aus der Union geradezu entlädt, offenbart die Spannung unter den Abgeordneten. Um das Migrationspaket, das an diesem Freitag in mehreren Abstimmungen verabschiedet wird, war hart gerungen worden. Der Zustand der Koalition im Allgemeinen und der SPD im Besonderen hat das nicht erleichtert. Und natürlich fühlen sich manche Koalitionäre auch durch die hohen Umfragewerte für die Grünen provoziert. Ein Sozialdemokrat habe sie angeraunzt, ob sie schon "den Rucksack fürs Kanzleramt gepackt" habe, erzählt eine Grüne.

Es ist immer wieder eine hitzige Debatte, die der Innenminister am Morgen eröffnet hat. Seehofer preist das Gesamtpaket, zu dem auch das später am Tag verabschiedete Fachkräftezuwanderungsgesetz zählt. Tatsächlich handelt es sich gerade wegen dieses Gesetzes geradezu um einen historischen Tag, weil um ein Einwanderungsgesetz jahrzehntelang gestritten wurde, vor allem wegen des Widerstands der Union. Das aber erwähnt Seehofer nicht. Stattdessen sagt er, Deutschland habe nun "die modernste Migrationspolitik in Europa. Das sollten wir nicht kritisieren, sondern stolz darauf sein".

Die Linke spricht von einem "beispiellosen Angriff auf die Rechte der Schutzbedürftigen"

Zum Gesetzentwurf zur effektiveren Abschiebepolitik gehört unter anderem, dass Migranten, die wegen Sozialleistungsbetrugs oder Drogendelikten zu mindestens einem Jahr Gefängnis verurteilt worden sind, künftig leichter ausgewiesen werden können. Geduldete Ausländer, die eigentlich ausreisen müssten, deren Abschiebung aber aus bestimmten Gründen aktuell nicht vollzogen wird, müssen zudem künftig empfindliche Nachteile in Kauf nehmen, wenn sie die Behörden über ihre Identität getäuscht haben oder sich weigern, Ausweispapiere vorzulegen oder zu besorgen. Ihnen wird nur noch eine "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" erteilt. Die Folgen: Sie dürfen ihren Wohnsitz nicht frei wählen und bekommen keine Arbeitserlaubnis. Andere Geduldete dürfen dagegen nach sechs Monaten Duldung arbeiten, was die SPD als Erfolg verbucht.

Die Polizei kann künftig Asylbewerber, die als Gefahr gelten und abgeschoben werden sollen, einfacher in Haft nehmen als bisher. Auch für andere abgelehnte Asylbewerber wird die Möglichkeit, sie in "Ausreisegewahrsam" zu nehmen, damit sie sich ihrer Abschiebung nicht entziehen können, erweitert. Weil es zu wenige Abschiebehaftplätze gibt, dürfen ausreisepflichtige Ausländer vorübergehend in normalen Gefängnissen untergebracht werden, von Straftätern getrennt.

Im Zuge der Beratungen des Gesetzes im Innenausschuss kam noch ein weiterer Punkt hinzu: Polizisten dürfen künftig die Wohnung eines abgelehnten Asylbewerbers durchsuchen - "zum Zwecke des Ergreifens des abzuschiebenden Ausländers", wie es in dem Gesetzentwurf heißt.

Der AfD ist das zu wenig. Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann spricht von einer doppelten Lüge: Das Gesetz schaffe weder Ordnung noch Abschiebung. FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg spricht von schwarz-roter Flickschusterei, die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke nennt das Gesetz "einen beispiellosen Angriff auf die Rechte der Schutzbedürftigen". Grünen-Rechtsexperte Konstatin von Notz spielt auf Seehofers Ankündigung an, 2021 aufzuhören. "Das ist eine große politische Karriere, die da zu Ende geht." Das sage er "mit Respekt". Für die Zuverlässigkeit und Seriosität deutscher Innenpolitik allerdings, so Notz, "kommt 2021 vier Jahre zu spät".

© SZ vom 08.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: