Flüchtlingspolitik:Türkisch für Anfänger

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Sagt Francois Hollande (l.) gerade was ganz Unpassendes? Angela Merkel mit Frankreichs Präsident und Griechenlands Premier Alexis Tsipras in Brüssel. (Foto: John Thys/AP)

Angela Merkel macht aus dem abgesagten Treffen der wenigen Willigen einen EU-Flüchtlingsgipfel im März - noch rechtzeitig vor den Landtagswahlen.

Von Thomas Kirchner

Um kurz vor drei Uhr morgens, nach einer "sehr langen und intensiven Diskussion" mit ihren Kollegen, hämmert Angela Merkel den verschlafenen Journalisten geradezu ein, woher ihrer Ansicht nach die Rettung in der Flüchtlingskrise nur kommen kann. 28 Mal, so die inoffizielle Zählung, nimmt die Kanzlerin innerhalb weniger Minuten die Worte "Türkei" oder "türkisch" in den Mund.

Vermutlich hat sie zuvor in ähnlichem Stakkato auf die Staats- und Regierungschefs eingeredet. Offensichtlich ist es Merkel in dieser Nacht gelungen, einen vermeintlichen Rückschlag, die terrorbedingte Abwesenheit des türkischen Premierministers in Brüssel, in einen Fortschritt umzumünzen: Denn ursprünglich hatte sich ja nur ein Dutzend "willige" Staaten mit Ahmet Davutoğlu treffen wollen, um den geplanten Extra-Deal mit der Türkei festzuklopfen. Nun wird daraus ein Sonder-EU-Gipfel Anfang März, rechtzeitig vor den deutschen Landtagswahlen. Was von ein paar wenigen Staaten eingeleitet und maßgeblich von deutschen Emissären in Ankara ausgehandelt wurde, heißen auf einmal alle 28 EU-Staaten willkommen. Ein bemerkenswerter Wandel und Grund zur Genugtuung für Merkel, die sich freut, dass nun "alle" der Sache mit der Türkei "Priorität" einräumten. Vor dem Abendessen sei das noch anders gewesen, bestätigt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, da hätten einige gezweifelt, dass man die Türken überhaupt brauche, um die Flüchtlingskrise zu lösen.

Zur Erinnerung: Die Europäer wollen die Türkei dazu bringen, die Grenze zu Griechenland mit Unterstützung der Nato dichtzumachen, Schmuggler zu bekämpfen und nicht zuletzt auch Flüchtlinge zurückzunehmen, die sich schon auf griechische Inseln durchgeschlagen haben.

Plötzlich können sich auch Visegrád-Staaten vorstellen, Flüchtlinge aufzunehmen

Parallel dazu würden einige Staaten damit beginnen, Syrer von türkischem Boden aus in großem Stil nach Europa zu fliegen. Resettlement, Umsiedlung, heißt das auf Technisch. Damit will man die Zahl der Ankommenden senken, illegale in legale Migration verwandeln und die Balkanroute langfristig obsolet machen. Wobei de facto Ankara nun in Vorleistung gehen soll: In den kommenden zwei Wochen werde sich zeigen, ob das mit der besseren Grenzsicherung funktioniere, sagt Merkel. "Und dann wird man sehr schnell weitersehen, wie wir da voranschreiten können." Schon jetzt gebe es positive Zeichen, dass die Kooperation mit Ankara Früchte trage, betont man in Brüssel wie Berlin. Die Niederländer haben, als erklärte Freunde des Resettlements, viel Sympathie für die deutsche Absicht, die türkische Option zum Hauptstrang einer möglichen Lösung zu erklären. Ihnen leuchtet ein, dass alles getan werden muss, um die Migranten, ob schutzbedürftig oder nicht, vor der mörderischen Querung der Ägäis zu bewahren. Als amtierende Ratspräsidentschaft haben sie aber auch alle 28 Mitgliedstaaten unter einen Hut zu bringen. Deshalb zählt Ministerpräsident Mark Rutte noch all die anderen Fronten auf, an denen die Europäer in der Flüchtlingskrise tätig seien: Grundursachen des Konflikts beseitigen, die Unterbringung der Flüchtlinge im Nahen Osten verbessern, die europaweite Verteilung jener Flüchtlinge organisieren, die weiterhin zu Tausenden auf Lesbos, Kos oder Chios stranden.

Letzteres hat bisher nicht funktioniert, nur ein paar Hundert Migranten wurden verschickt. Und auch wenn die dazugehörenden Aufnahme- und Verteilzentren bald alle fertig sein sollen, bleibt fraglich, ob das System jemals wirklich in Gang kommt. Einige osteuropäische Staaten weigern sich schlicht, daran teilzunehmen; selbst die Bundesregierung hat den Enthusiasmus, mit dem sie einst für diese Lösung plädierte, längst verloren. Ministerpräsident Horst Seehofer, der nie enthusiastisch war, will nun ein baldiges Treffen der Koalitionsspitze, um über die "ausgebliebene Umsetzung der europäischen Vereinbarungen und eine effektive Kontrolle der deutschen Grenzen" zu reden. Die Osteuropäer lassen sich vielleicht gerade über die türkische Option einbinden, an der sie "freiwillig" teilnehmen dürfen. Wenn es gelinge, die Zahlen zu senken, sagt ein Diplomat aus den Visegrád-Ländern, "dann haben wir eine komplett andere Landschaft. Das würde uns zum Nachdenken bringen". Solche Gedanken sind es, die man in Berlin anstoßen will.

Überhaupt, so dumm sei die osteuropäische Forderung doch gar nicht, die griechisch-mazedonische Grenze "besser zu kontrollieren", sagt ein hoher EU-Diplomat. Rutte zufolge könnte diese Maßnahme Teil einer Abfolge von "Filtern" werden, von der Türkei über den Balkan bis Österreich. Dies müsse nur auf "saubere Art und Weise" geschehen. Anders gesagt: Griechenland braucht Hilfe, um einen möglichen Flüchtlingsstau in seinem Gebiet verkraften zu können. Denn bald sollen die Schengen- und Dublinabkommen wieder gelten. Dann müsste jeder Flüchtling dahin zurückgeschickt werden, wo er zuerst den Boden der EU betreten hat: also nach Griechenland.

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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