Kommentar:Prekäre Hoffnungen

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Politiker, Ökonomen, Vorstandschefs und Demoskopen - alle begrüßen die Zuwanderung. Doch die Flüchtlinge werden die Probleme nicht lösen können.

Von Thomas Öchsner

Mit einer der niedrigsten Geburtenraten weltweit ist Deutschland eine aussterbende Nation. Jede Frau bringt hierzulande im Schnitt nur 1,4 Kinder zur Welt. Die Hunderttausenden Flüchtlinge, die nun ins Land kommen, haben deshalb eine Art Willkommensrausch ausgelöst. Vom "Segen der Zuwanderung" ist die Rede. Politiker, Ökonomen, Vorstandschefs, Demografen hoffen, dass die vielen tatkräftigen und leistungswilligen jungen Menschen bald einen Job finden, fleißig Sozialabgaben und Steuern zahlen, die Renten finanzieren und die Gesellschaft verjüngen, die zu einer Republik der Alten zu werden droht. Die Euphorie dürfte jedoch bald erst einmal in Ernüchterung umschlagen.

Gewiss, die Zuwanderung kommt wie gerufen. Die Bundesrepublik ist, auch wenn das konservative Kreise lange nicht wahrhaben wollten, ein Einwanderungsland. Zuerst kamen nach dem Zweiten Weltkrieg zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Obwohl Landsleute aus Ostpreußen oder Schlesien, waren sie den Einheimischen fremd. Sie wurden als "Polacken" beschimpft, galten als rückständig. Ein Großteil fand zunächst keine Arbeit. In vielen Fällen schaffte es erst die zweite Generation, sich einen Platz in der westdeutschen Gesellschaft zu erobern.

Später wurden Millionen "Gastarbeiter" angeworben. Junge Männer, die die Drecksarbeit machen, Jobs für Ungelernte übernehmen sollten. Im Rückblick fällt die Bilanz sehr positiv aus. Deutschland hat von beiden Zuwanderungswellen profitiert. Die Vertriebenen haben zum Wirtschaftswunder beigetragen, die Gastarbeiter zum Aufstieg Deutschlands zu einer der stärksten Volkswirtschaften der Welt. Wird sich das von den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak, Pakistan oder Afghanistan auch irgendwann sagen lassen?

Man kann es nur hoffen.

Die Kanzlerin versichert: "Wir schaffen das." Auch wenn sich Bund und Länder beim Flüchtlings-Gipfel an diesem Donnerstag auf einen genialen Masterplan einigen würden, wird dies eine Jahrhundertaufgabe.

Der gut ausgebildete Arzt aus Syrien ist nicht der Regelfall

Die Bundesregierung rechnet allein in diesem Jahr mit 800 000 Flüchtlingen. Die Hälfte wird vielleicht als Asylbewerber anerkannt oder geduldet und damit offiziell hierbleiben können. Der viel beschriebene syrische Arzt unter ihnen ist aber, das sagt Arbeitsministerin Andrea Nahles zu Recht, nicht der Standardfall.

Etwa die Hälfte dieser Menschen dürften eine geringe oder gar keine Ausbildung haben. Oft fehlt sogar ein Schulabschluss, oder es handelt sich um Analphabeten. Es gibt in der Industrie allerdings nicht mehr so viele Stellen für Ungeschulte wie in den Zeiten der Gastarbeiter. Die Unternehmen suchen heute Spezialisten, etwa Elektriker, Klempner, Techniker, Ingenieure, Pflegekräfte. Und selbst wenn die Flüchtlinge einen Beruf gelernt haben sollten, kommen sie dadurch nicht sofort für eine offene Stelle infrage. Metallarbeiter in Syrien gewesen zu sein, heißt noch lange nicht, mit einer CNC-Fräse in Deutschland umgehen zu können.

Hinzu kommt das größte Problem: Kaum einer der Flüchtlinge spricht Deutsch. Es gibt, auch wenn es dafür in Zukunft mehr Geld gibt, nicht schnell genug und zu wenige Sprachkurse in ausreichendem Umfang. Und diejenigen, die bereits Deutsch lernen, tun sich verständlicherweise schwer. Erste Kenntnisse reichen aber für die Berufsschule nicht aus.

Auch die Erfahrungen der Bundesagentur für Arbeit sind ernüchternd: Bei einem Modellprojekt ließ sich nicht einmal jeder zehnte Asylbewerber direkt auf eine Stelle vermitteln. Für viele anerkannte Flüchtlinge wird wohl zunächst nur ein Job im Niedriglohnsektor infrage kommen, etwa in der Gastronomie und in der Landwirtschaft, selbst wenn sie dafür formal überqualifiziert sind. Stellen für Ungelernte zu besetzen, das dürfte für die Unternehmen, die um Langzeitarbeitslose oft lieber einen Bogen machen, in Zukunft kein großes Problem sein.

Wirtschaft und Politik sollten den Bürgern aber nichts vormachen: Viele der Neuangekommenen werden zunächst arbeitslos und zu Hartz-IV-Empfängern werden. Jeder Euro, der in Integrations- und Sprachkurse fließt, jeder Cent, der in ihre Bildung und Ausbildung investiert wird, ist deshalb gut angelegtes Geld.

Langfristig geht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Diejenigen, die in der Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben nach Deutschland gekommen sind, dürfen nicht zu Dauerkunden der Jobcenter werden, zu einer neuen Schicht der hoffnungslos Abgehängten. Sie müssen die Chance haben, ihren Lebensunterhalt mittelfristig selbst zu verdienen. Die wunderbar große Hilfsbereitschaft der Bürger könnte sonst schnell schwinden - und der Kreis der Pegida-Demonstranten wieder größer werden.

© SZ vom 10.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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