Fall Demjanjuk:Gnade für die Greise

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Gnade gibt es nicht auf Vorrat. Sie ist kein Blankoscheck, der einfach des Zeitablaufs wegen ausgestellt werden kann. Es kann sie erst nach dem Schuldspruch geben.

Heribert Prantl

Beihilfe zum Mord in 29.000 Fällen: Die Untaten, die dem mutmaßlichen KZ-Verbrecher John Demjanjuk vorgehalten werden, sind heute mehr als sechzig Jahre her.

Der 89-jährige John Demjanjuk wurde vom Münchner Flughafen im Krankenwagen in die JVA Stadelheim verbracht. (Foto: Foto: AP)

Sie sind so lange her wie die Mordtaten, die nach der Wende Erich Mielke, dem ehemaligen Stasi-Minister der DDR vorgehalten wurden. Mielke wurde im Jahr 1993 nicht etwa wegen der Untaten der Stasi angeklagt und verurteilt, sondern wegen eines Doppelmordes an zwei Polizisten, den er im Jahr 1931 begangen hatte.

Mielke war damals ein junger KPD-Aktivist; bei einem Vergeltungsschlag gegen eine verhasste Polizeieinheit erschoss er zusammen mit einem Mittäter die beiden Polizisten aus dem Hinterhalt.

Was hat das mit Demjanjuk zu tun? Nichts - außer der ungeheuer langen Zeit, die zwischen der Tat und ihrer Ahndung liegt. Das Landgericht Berlin berücksichtigte diese ungeheuer lange Zeit bei der Bemessung der Strafe. Es verurteilte Mielke nicht, wie es der Paragraph 211 des Strafgesetzbuches bei Mord eigentlich vorsieht, zu lebenslanger Freiheitstrafe, sondern nur zu einer Haft von sechs Jahren.

Es lastete Mielke zwar ausdrücklich das Mordmerkmal der Heimtücke an, verurteilte ihn auch als Doppelmörder, verwies aber dann darauf, dass Mielke seine Verbrechen schon vor 62 Jahren begangen habe; nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sei daher die absolute Höchststrafe nicht mehr angemessen. Das Gericht konnte sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen, das einerseits die Verfassungsmäßigkeit der lebenslanger Freiheitsstrafe betont, bei außergewöhnlichen Umständen aber ein mildere Strafe zugelassen hat. Es handelt sich um die Gnade des späten Urteils.

Es kann aber auch diese Gnade des späten Urteils erst dann geben, wenn die Schuld festgestellt ist. Gnade gibt es nicht auf Vorrat, nicht auf Verdacht, nicht über den Daumen gepeilt. Gnade ist keine Dreingabe, die man wie den Taschenkalender für das neue Jahr in der Drogerie geschenkt bekommt. Gnade kann und darf einem Beschuldigten nicht quasi für nichts angeboten werden, ohne Geständnis, ohne Reue, ohne Tatnachweis, ohne Urteil. Gnade ist kein Blankoscheck, der ohne Ansehen von Tat und Person einfach des Zeitablaufs wegen ausgestellt werden kann. Gnade ist gnädig, aber nicht blind.

Hätte man aus Gnade gar nicht erst feststellen sollen, dass der ehemalige SS-Scherge Anton Malloth Menschen, die für ihn "Saujuden" waren, in Theresienstadt mit schweren Stiefeln totgetrampelt hat? Er war 89 Jahre alt, als er dafür 2001 in München verurteilt wurde. Hätte man aus Gnade den mörderischen Sadismus des SS-Oberscharführers Josef Franz Leo Schwammberger vergessen sollen, der sich in den Lagern Rozwadow und Przemysl aufgeführt hat wie ein Teufel? Er war achtzig Jahre alt, als er 1992 verurteilt wurde, bis zum Schluss "unbeirrbar in seinen Überzeugungen", wie eine Verehrerin in einer NPD-Zeitung schrieb.

Der Holocaust-Überlebende Thomas Blatt, der als Jugendlicher 1943 aus dem Vernichtungslager Sobibor fliehen konnte, aus dem Lager also, in dem wohl Demjanjuk gewütet hat, ist heute 82 Jahre alt. Er hat Demjanjuk zu einem Geständnis aufgefordert und gesagt. "Er verdient Gnade, wenn er die Wahrheit sagt." Ja, es kann Gnade geben - aber erst dann, wenn die Schuld festgestellt ist. Der Schuldspruch ist der Protest der Gesellschaft gegen Unmenschlichkeit und Barbarei. Nach einem Geständnis, nach einem Schuldspruch - dann mag Demjanjuk im Altersheim sterben.

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